liberale Presse und das Zentrum, ein Vorgang, der sich mit Naturnotwendig-
keit vollziehe. Mit dieser Theorie, richtiger: Zukunftsmusik, hatte dieRe-
gierung eine neue Eintschuldigung: nichts zu tun, denn: je stärker die
Sozialdemokratie wurde, desto ‚verantwortlicher‘ würde sie sich ja fühlen
und deshalb vor allem keine Umsturzgefahr mehr sein. Das war der Punkt,
denn die Angst vor der Gefahr beherrschte das Bürgertum vom Kaiser bis
zum kleinen Beamten. Bei dem Schlagwort von der unfehlbar zu erwarten-
den Mauserung atmeten alle auf und beschlossen — nur noch fester dieAugen
vor aer Gefahr zu schließen :: es könne ja so schlimm nicht werden!
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Die soziale Frage ist also in einem tieferen Sinne von Anfang seiner Re-
gierung an bestimmend für den ‚Neuen Kurs‘ Wilhelms II. gewesen. Nicht
minder wichtig erscheint auch die Feststellung, daß es sich bei dem brutal
erzwungenen Rücktritt Bismarcks nicht allein um mehr oder minder
schwere persönliche Zerwürfnisse, Stimmungen und Verstimmungen —
gewiß sind auch solche in starkem Maße vorhanden gewesen — gehandelt
hat, sondern um den unausgleichbaren sachlichen Gegensatz in der Frage:
Sozialdemokratie. Bismarck hatte sie als grundlegend für die Entwicklung
der deutschen Zukunfteerkannt, der Kaiser nicht. Deswegen warunmöglich,
daß der Kanzler hier nachgegeben hätte, auch dann, wenn sonst keine In-
trigen, noch persönliche Verstimmungen gewesen wären. Auch kein Zurück-
schieben in der Entscneidung der Frage war möglich, denn die Tatsache lag
vor: für Erneuerung des Sozialistengesetzes, wie Bismarck es wollte, war
keine Aussicht, der Erneuerungstermin stand vor der Tür, also mußte ent-
schieden werden, ob man das Gesetz fallen lassen, damit der Sozialdemo-
kratie freie Hand geben oder eben kämpfen wollte. Eine dritte Möglichkeit
war nicht vorhanden.
In den meisten Darstellungen dieses Anfangskampfes zwischen Kaiser und
Kanzler, der dann zum Endkampf wurde, sind in nicht wenigen Schilde-
rungen die politischen Hauptpunkte zu wenig und das persönliche Moment
ungebührlich hervorgehoben worden: Man hat Bismarck persönlich schwer
getadelt, daß er dem Kaiser nicht in seinen Arbeiter-Erlassen und mit seiner
internationalen Konferenz willig entgegengekommen wäre. Der Starrsinn
des alten Kanzlers und seine Herrschsucht seien wirklich nicht nötig ge-
wesen. Wäre er nur ein wenig entgegengekommen, so würde zum mindesten
der schroffe Bruch vermieden worden sein. Wir glauben, gezeigt zu haben,
daß die Dinge sich anders verhielten, daß es von vornherein um die große
sachliche Entscheidung über die Behandlung der sozialen Frage ging. Sie
wurde zum Prüfstein der beiden Charaktere.
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