Full text: Von Potsdam nach Doorn.

Zerrungen, in deren Mittelpunkt er sich stets befände, zugesetzt. Wenn er 
jetzt noch eine Politik auf ‚Stimmung‘ machen solle, so gehe er lieber heute 
als morgen.“ 
Wenige Tage nachher griff der Kaiser persönlich bei dem Grafen Herbert 
Bismarck ein in einer finanzpolitischen Angelegenheit mit Rußland, von 
deren Sinn und Bedeutung er keine Ahnung hatte, und befahl einen Presse- 
feldzug dagegen! . 
Es ist auffallend, daß Wilhelm II., der vorher als Prinz schon seit der Er- 
krankung seines Vaters mit steigender Ungeduld an seinen baldigen Re- 
gierungsantritt dachte, sich nicht vor allem und mit äußerster Hingabe und 
Ausdauer an das Studium der Politik Bismarcks gemacht hatte. Wann hätte 
jemals ein zu baldiger, jeden Tag möglicher Thronfolge berufener Prinz die 
Möglichkeit zu politischer Vorbereitung in höherem Grade gehabt als der 
Prinz Wilhelm und der neu die Regierung antretende Kaiser Wilhelm II.! 
Der Kanzler seinerseits hat es mit seinem Sohn unermüdlich versucht. Wie- 
viel dem alten Bismarck daran liegen mußte, geht einfach daraus hervor, daß 
er sein eigenstes Werk, das Deutsche Reich, dessen europäische Stellung für 
die Zukunft nach Möglichkeit erhalten und gesichert wissen wollte. Diese 
Sorge, die ihn während seiner Amtsführung und nachher bis zu seinem Tode 
mit düsteren Ahnungen begleitet hat, war ihm nicht nur eine Sache der 
Pflicht. Wie nach der Entlassung Bismarcks der ‚„Kladderadatsch“ in 
seinem von Ernst von Wildenbruch verfaßten Abschiedsgedicht schrieb: 
„Du gehst von deinem Werke, dein Werk geht nicht von dir.“ 
Der Prinz, nachher der Kaiser, befand sich in einer annähernd völligen 
Unkenntnis der europäischen Lage und der deutschen Reichspolitik in ihr 
und über sie. Das zeigen nicht nur jene Proben, sondern vor allem die Jahre, 
die folgten. Wie der Bakkalaureus im ‚„Faust‘“ dachte Wilhelm: ‚Er- 
fahrungswesen Schaum und Dunst.‘ — ‚Am besten wär's, euch (die Alten) 
zeitig totzuschlagen.‘‘ — Seine Mutter hatte gesagt: Alles, was Wilhelm tue, 
tue er aus Eitelkeit. Das Wort Bismarcks: Der Kaiser wolle jeden Tag Sonn- 
tag feiern, deckt sich mit einer zahllosen Menge gleichgerichteter Äuße- 
rungen von Persönlichkeiten, die im Laufe seiner Regierungszeit in seiner 
Umgebung waren. Er war ohne weiteres sicher, daß es seiner Genialität ohne 
weiteres gelingen werde, die auswärtige und innere Politik des Deutschen 
Reiches ohne Vorarbeit und Kenntnis aus dem Handgelenk zu führen, und 
zwar besser und auf anderem Kurse zu führen als der Kanzler. Sonst läßt 
sich sein Verhalten nicht erklären. Er konnte nicht einmal die wenigen Jahre 
abwarten, nach deren Abiauf Bismarck von selbst ganz oder allmählich 
seine Ämter aufgeben mußte. 
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