Gleichwohl brachte dasselbe Jahr eine, freilich geringe, Heeresvorlage,
die für alle Fälle, also einen Zwei-Fronten-Krieg, die deutsche Wehrstärke
etwas erhöhen sollte. Dem Reichskanzler ist anscheinend nicht zum Bewußt-
sein gekommen, daß Rußland mit zwingender Notwendigkeit an Frankreich
herangezwungen worden war, weil es, seit 1890, isoliert dastand.
In Frankreich gab man sich, und ebenso in Rußland, einer hemmungs-
losen Triumphstimmung hin: war doch hiermit endlich das große Ziel er-
reicht worden und wurde, was ebenfalls schwer ins Gewicht fiel, der Welt-
öffentlichkeit kundgegeben, daß Frankreich nicht mehr allein stand, sondern
ein festes Bündnis, und zwar ein Schutz- und Trutzbündnis, mit dem mäch-
tigen russischen Reiche geschlossen hatte.
Es konnte nicht fehlen, daß die Stimmung in Deutschland durch dieses
Ereignis und nicht zum wenigsten durch dessen triumphierende Veröffent-
lichung recht bedrückt wurde. Die Gegner des ‚Neuen Kurses‘ legten in der
Presse und in Versammlungen diesem zur Last, daß die alte Freundschaft
mit Rußland, nach Bismarcks Entlassung, nicht mehr mit dem erforder-
lichen Geschick und der nötigen Sorgfalt politisch gepflegt worden sei. Die
Presse des ‚Neuen Kurses‘ erklärte darauf moralisch entrüstet: diese Auf-
fassung sei ganz unrichtig und augenscheinlich nur aus Haß gegen den
Kaiser und seine Berater entstanden. In Wirklichkeit habe gerade die Politik
des Fürsten Bismarck, besonders seine Haltung auf dem Berliner Kongreß,
die russisch-französische Annäherung veranlaßt. Diese sei schon 1890 in
unaufhaltsamer Entwicklung gewesen. Wenn also eine Schuld oder ein Ver-
sagen der deutschen Außenpolitik in Frage komme, so falle diese auf die
Politik des Fürsten Bismarck, nicht aber auf den Neuen Kurs.
In diese immer heftiger werdenden Öffentlichen Meinungsstreite hinein
platzte im Herbst 1896 ein vom Fürsten Bismarck veranlaßter Artikel der
„Hamburger Nachrichten“:
„Bis zum Jahre 1890 waren beide Reiche (Deutschland und Rußland) in
vollem Einverständnis darüber, daß, wenn eines von ihnen angegriffen
würde, das andere wohlwollend neutral bleiben solle. Dieses Einverständnis
ist, nach dem Ausscheiden Bismarcks, nicht erneuert worden. Und wenn wir
über die Vorgänge in Berlin richtig unterrichtet sind, so war es nicht etwa
Rußland, in Verstimmung über den Kanzlerwechsel, sondern Caprivi war es,
der die Fortsetzung jener gegenseitigen Assekuranz ablehnte, während Ruß-
land dazu bereit war. Wenn man dazu die gleichzeitige polonisierende Ära,
die durch die Namen Stablewski und Koscielski gekennzeichnet ist, po-
litisch in Anschlag bringt, so wird man nicht zweifelhaft sein können, daß
die russische Regierung sich fragen mußte, welche Ziele kann dieser preu-
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