Full text: Von Potsdam nach Doorn.

In Frankreich wirkten der Besuch und die Reden wie die bekannte 
Bombe, man sah die Kriegsgefahr vor der Tür, und die Stimmung wandte 
sich gegen Delcasse. Die Stimmung im Ministerium war geteilt, es kam im 
Juni 1905 zu einer entscheidenden Ministerratssitzung, nachdem die deutsche 
Regierung den Vorschlag gemacht hatte, eine internationale Konferenz über 
die Marokko-Angelegenheit zu berufen. Delcasse war dagegen: man müsse 
unter allen Umständen durchhalten, von England habe er Beistandszusiche- 
rungen. Er zeigte eine Depesche des italienischen Außenministers vor: 
„Deutschland wird nie wagen, Sie anzugreifen, wenn Sie mit England ver- 
bündet sind!‘‘ — Unwidersprochen berichteten nachher französische Zei- 
tungen: der Ministerpräsident habe den Kriegs- und Marineminister gefragt, 
ob Frankreich bereit sei. Der Kriegsminister habe die Hände emporgehoben 
und ausgerufen: ‚Wir sind in keiner Hinsicht bereit!‘‘; ebenso der Marine- 
minister. Im Anschluß daran erklärte sich der ganze Ministerrat zur An- 
nahme des deutschen Konferenzvorschlages bereit, bis auf Delcasse. Dieser 
trat infolgedessen in tränender Wut unmittelbar zurück. 
Der Rücktritt wurde mit lautem Siegesgeschrei von den deutschen Re- 
gierungskreisen und ihrer Presse aufgenommen. Delcasse verteidigte in der 
Presse seine Politik: er habe von England Zusage erhalten, daß im Kriegs- 
fall Großbritannien auf Frankreichs Seite treten würde, im besonderen, daß 
man ein Expeditionskorps von 100 000 Mann auf dänischem Boden landen 
und von Jütland aus gegen Kiel und den Nordostsee-Kanal marschieren 
würde. — Der englische Beistand würde Deutschland unmöglich gemacht 
haben, gegen Frankreich Krieg zu führen, da auch der Dreibund versagt 
haben würde. — 
Unmittelbar nach diesen Enthüllungen erschien in französischen Häfen 
ein englisches Besuchsgeschwader und ein französisches in einem englischen 
Hafen, zu letzterem kam König Eduard und betonte in einer Tischrede die 
Solidarität der beiden Länder. Die Lage war also vollkommen klar, auch 
denen, die auf deutscher Seite bis dahin nicht an die englisch-französische 
Solidarität hatten glauben wollen. Diese unverbesserliche Kategorie von 
Deutschen wiegte sich ja auch 1914 in derselben Illusion, und es hat sehr 
lange gedauert, bis sie verschwand. 
Während der sechs folgenden Jahre kam in kurzen Zwischenräumen eine 
„Marokko-Krisis‘ nach der anderen, bis 1911. Daß es so kam, war die Folge 
der Unbeständigkeit und des Schwankens der, im Sinne des Begriffes: ziel- 
losen, Politik des Deutschen Reichs. Gewiß, man nannte das Ziel und formu- 
lierte es immer wieder aufs neue: Unabhängigkeit Marokkos, offene Tür für 
den Handel aller Nationen, Autorität des Sultans; Deutschland habe kei- 
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