Full text: Von Potsdam nach Doorn.

Während des Weltkrieges erschien eine kleine Schrift aus der Feder des 
Engländers Harold Begbie ‚The vindication of Great-Britain‘; Lord Hal- 
dane hat den Inhalt dieser Schrift als ‚richtig‘ bestätigt. Der Verfasser 
schrieb darin: „König Eduard VII. sah, daß Deutschland die größte Dro- 
hung für den Weltfrieden war, nicht freilich, weil es hundert Jahre zu spät 
auf die Welt gekommen war In der Welt gab es nur eine einzige Be- 
drohung des Friedens, und diese Bedrohung war die wachsende Bevölkerung, 
der wachsende Wohlstand und die wachsende Unruhe (unrest) des Deut- 
schen Reiches.“ 
Es erforderte schon angelsächsische Mentalität, um in der wachsenden Be- 
völkerung und dem wachsenden Wohlstand Deutschlands eine Bedrohung 
des Friedens zu sehen, wenn man nicht dem deutschen Volk, dem Kaiser und 
dessen Regierung Kriegslust und Eroberungswillen zutrauen wollte. König 
Eduard und seine Leute wußten gut genug, daß von derartigen Süchten in 
Deutschland nichts vorhanden war, und der König im besonderen, der seinen 
Neffen, seiner Mentalität nach, so genau kannte, wußte ebenso genau, daß 
Wilhelm II. seiner ganzen Charakteranlage nach pazifistisch geartet und ein 
schwacher Mann war. Das wußte man auch anderwärts, auch in Paris und 
St. Petersburg, wo während der letzten Jahre vor dem Kriege im General- 
stab und Kriegsministerium als besonderer Vorteil Rußlands festgestellt 
wurde: man könne sich den Augenblick des Losschlagens gegen Deutsch- 
land mit Sicherheit selbst aussuchen, denn der Deutsche Kaiser werde nie 
einen Krieg beginnen. 
Wie das Wachsen der deutschen Bevölkerung, das damals schon bedeu- 
tend zurückgegangen war, zu einem Eroberungskrieg hätte führen sollen, 
erscheint bei nüchternem Rückblick unerfindlich. Eroberungen in den da- 
maligen baltischen Provinzen Rußlands sind ebenso wie Bismarck so auch 
Wilhelm II. und seine Minister stets abgeneigt geblieben. Im Russisch- 
Japanischen Kriege wäre gleichwohl eine glänzende Gelegenheit dafür vor- 
handen gewesen..Das Wachsen der Bevölkerung wurde keineswegs als Last 
empfunden, solange Industrie und Handel blühten. Das Wort von Tirpitz: 
Man müsse Waren ausführen oder Menschen, war richtig, und die Waren- 
ausfuhr wuchs in Deutschland von Jahr zu Jahr. Hier lag der letzten Endes 
Lestimmende Crund für die englische Feindschaft und besonders für die des 
Königs. Wie der wachsende Wohlstand den Frieden bedrohen sollte, istnicht 
erfindlich. Nun: „die Unruhe‘! Damit sollte wohl angedeutet werden, daß 
maßgebende Schichten und Persönlichkeiten, besonders in der Armee, der 
friedlichen Tätigkeit satt, einen Krieg herbeigesehnt hätten. Es ist gewiß 
möglich, daß, wie zu allen Zeiten, begabte und tüchtige Offiziere den Wunsch 
gehabt haben. ihre Leistung in einem Kriege zu bewähren. Aber weder unter 
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