Eduard VII. kannte die Franzosen genau, schon ehe er König geworden
war, besaß überhaupt Menschenkenntnis. Daß er es 1903 in ganz kurzerZeit
fertigbrachte, die Stimmung des französischen Volks und des Parlaments
nach vorhergegangenen schlechtesten Beziehungen für sich persönlich und
für Großbritannien völlig umzustimmen und dann das sogenannte Marokko-
Abkommen zu schaffen, war eine staatsmännische und diplomatische
Musterleistung. Deren Größe wird dadurch nicht beeinträchtigt, daß er als
der ‚erste Freimaurer Europas‘ auch gerade in diesen Kreisen größten Ein-
fluß hatte und entsprechende Unterstützung fand.
Die gegen Deutschland gerichtete Spitze der Entente cordiale entwickelte
sich weiter unter der Scheinfirma: Marokko. Der französischen Regierung
fiel es nicht ein, die Bestimmungen der Algeciras-Akte innezuhalten, sondern
sie begann gleich nachher zur ‚‚Wiederherstellung der Ordnung‘ oder ‚zum
Schutze französischer Staatsangehöriger‘“ oder ‚zur Sicherung der Handels-
wege‘ und so weiter dauernd auf dem marokkanischen Gebiet einzugreifen,
außerdem die Freiheit und Gleichheit des Handels ohne weiteres mit Füßen
zu treten; dazu kamen örtliche Konflikte, zum Beispiel wegen eines Deut-
schen, der der Fremdenlegion entlaufen war und bei Deutschen in einer
marokkanischen Hafenstadt Schutz fand. Ein sogenannter Zwischenfall
folgte dem anderen, und es zeigte sich sehr schnell, daß die Algericas-Akte
ein wertloses Stück Papier war. Der Kaiser und die deutsche Regierung be-
schritten in ihrer Ratlosigkeit die ihnen von den Franzosen gebaute un-
rühmliche Rückzugsbrücke: diese und ähnliche Zwischenfälle und Über-
griffe als ‚außerhalb der Algeciras-Akte liegend‘ anzusehen.
Die französische Außenpolitik hatte begriffen, daß es Berlin nur darauf
ankam, das Gesicht leidlich zu wahren, daß man in der Sache selbst bereits
verzichtet hatte und ihrer müde war, sehr müde. Damals, 1907, war Cle-
menceau Ministerpräsident. Als er in der Kammer gefragt wurde — es han-
delte sich gerade um jenen Zwischenfall —, ‚ob Frankreich im Falle des
Krieges garantiertermaßen englischen Beistand zu erwarten habe‘, ant-
wortete er unter allgemeiner Heiterkeit: ‚Ich weiß es nicht, aber ich glaube
es nicht!“ Ganz Europa, außer Deutschland, lachte über diese Ironisierung
formaler amtlicher Diskretion. In diesen Jahren. entstand in Frankreich
jener zuversichtliche, vor dem Krieg nicht mehr zurückschreckende, beinahe
kriegslustige ‚‚neue Geist‘ (esprit nouveau). Man war Großbritanniens ganz
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