Full text: Von Potsdam nach Doorn.

sicher geworden; man vertraute fest darauf, daß in einem Kriege Italien 
nicht an der Seite des Deutschen Reiches stehen werde, man sah den mili- 
tärischen Niedergang Österreich-Ungarns und die zunehmende innere Zer- 
rissenheit des Habsburger Reichs und hatte die Schwäche und Unentschlos- 
senheit des Deutschen Kaisers als realen Faktor in die politische Rechnung 
eingestellt. Sein Nimbus als gewaltiger Herrscher und als ein Führer war vor- 
bei. Vieles läßt sich in dieser Welt an Verlusten wiederherstellen, niemals 
aber der einmal verlorengegangene Nimbus einer überschätzten Per- 
sönlichkeit! 
Die nächste Marokko-Krisis ließ nicht auf sich warten, sie erfolgte im 
Herbst 1908 in Gestalt eines neuen deutsch-französischen ‚‚Zwischenfalls‘ 
in der Hafenstadt Casablanca. Das Recht war auf der deutschen Seite. In 
Deutschland wie in Frankreich bestand erhebliche Erregung, das Kabinett 
Clemenceau erklärte: Frankreich habe keine Furcht und sei zum Kriege 
bereit; der König von England teilte mit: Großbritannien sei ebenso ent- 
schlossen wie 1905, an Frankreichs Seite zu treten. Die Sache wurde dem 
Haager Schiedsgericht übertragen, dieses entschied gegen Deutschland. Das 
war wieder eine deutsche Schlappe, wieder eine Minderung des deutschen 
Ansehens. Die Leute sagten sich: Man muß dem Kaiser nur die Zähnezeigen, 
dann weicht er zurück! 
So wurde nun in Berlin beschlossen, schon wegen der immer schwerer 
werdenden Spannungen um die Balkan-Halbinsel zwischen Österreich- 
Ungarn und Rußland, die deutsch-französische Reibungsfläche Marokko zu 
beseitigen. Diese Absicht hatte bereits kurz vor der Casablanca-Angelegen- 
heit beginnen sollen, und zwar auf der Basis: Deutschland erklärt sich po- 
litisch desinteressiert! 1909 brachte der nachherige Staatssekretär Kiderlen- 
Waechter ein Abkommen in diesem Sinne zustande. Es war wieder eine 
Selbsttäuschung, zu glauben, daß Frankreich auch nur daran denke, anderen 
Nationen, und besonders Deutschland, wirtschaftliche Freiheit und Gleich- 
heit tatsächlich zu gewähren. Die deutsche Regierung aber war stolz auf 
diese ‚Erledigung‘ und hegte die neue Illusion: nun werde auch das Ver- 
hältnis zu England endlich besser werden. Endlich, 1909, machten der König 
und die Königin von England ihren ‚‚Antrittsbesuch‘ in Berlin. In seiner 
Tischrede erklärte Eduard VII.: die Erhaltung des Friedens sei immer das 
Ziel seiner Bemühungen gewesen; ganz kurz nachdem er in der bosnischen 
Krisis den europäischen Krieg beinahe zum Ausbruch gebracht hatte. 
Deutschland war über diese neue Harmonie und Festigung des Welt- 
friedens durch den König entzückt, und im Berliner Rathause glaubte man, 
dem — nicht eben lyrisch-sentimental veranlagten — König einen tiefen 
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