Full text: Von Potsdam nach Doorn.

war er erfüllt, und mit jedem Jahre heftiger, von dem wachsenden Un- 
abhängigkeitsdrang der balkanischen Staaten und ihrer Eifersuchtskämpfe 
untereinander. Hinzu kam der Gegensatz zwischen Serbien und Österreich- 
Ungarn, kamen die politischen Machenschaften von Petersburg und London, 
teils gegeneinander, teils auf Unterwühlung Österreich-Ungarns als Balkan- 
macht und als europäische Großmacht berechnet. Andererseits stärkte man 
die Balkanstaaten gegen die Türkei. 
Kein Staatsmann konnte auf Eintritt stabiler Verhältnisse auf dem Bal- 
kan und im Bereiche des Türkischen Reiches rechnen, schon deshalb nicht, 
weil das damalige Türkische Reich tatsächlich der unheilbar kranke Mann 
war. 
Darüber haben sich nicht allein Wilhelm II. mit seinen Ratgebern getäuscht, 
sondern merkwürdigerweise auch deutsche Botschafter und hervorragende 
deutsche Generale, trotzdem diese lange Zeit und wiederholt als militärische 
Instruktoren dort tätig waren. Man darf nicht vergessen, daß die damalige 
Türkei das Ergebnis einer Reihe gewaltsamer Eroberungen aus früheren 
Jahrhunderten war, nicht nur in Europa, sondern auch in Asien und Ara- 
bien. Je stärker sich die Unabhängigkeitskräfte dort und in den Balkan- 
ländern regten und zielbewußt von den genannten europäischen Groß- 
mächten gestützt und angefacht wurden, desto brüchiger mußte der Ge- 
samtbestand des Reiches werden. Auch zeigte sich, zunehmend mit dem 
Lauf der Jahre, daß für die kaiserliche Orientpolitik die Haltung Österreich- 
Ungarns keineswegs eine fördernde war. Nach Bismarcks Entlassung verhielt 
sich die Wiener Außenpolitik in bezug auf das Deutsche Reich stets intrigant, 
voll mehr oder minder versteckter Eifersucht, anspruchsvoller Überheblich- 
keit; Bismarck war ja fort! Andererseits zeigten die österreichischen Staats- 
männer und Diplomaten wie eine Selbstverständlichkeit die Auffassung: das 
Deutsche Reich sei stets ohne weiteres verpflichtet, jeden Zug der Wiener 
Außenpolitik zu vertreten und zu unterstützen, auf jede Gefahr hin. Wiener 
Diplomaten unterließen in solchen Fällen selten die Andeutung: das Deut- 
sche Reich werde doch wohl guttun, sich seinen einzigen sicheren Bundes- 
genossen des Dreibundes zu erhalten. Es entwickelte sich mit der Zeit das 
groteske Verhältnis, daß die Wiener Politik nicht nur in den Orientdingen 
die deutsche im Schlepptau führte, sondern auch das deutsch-russische Ver- 
hältnis schädlich zu beeinflussen trachtete. 
Der Deutsche Kaiser betrachtete auch auf diesem Gebiete das Verhältnis 
zwischen den beiden Großmächten in der Hauptsache als ein solches zwi- 
schen den beiden Monarchen, denen die beiderseitigen Untertanen lediglich 
„zuzujubeln‘ hätten und dieser Pflicht unter allen Umständen Genüge 
leisten würden. 
303
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.