Full text: Von Potsdam nach Doorn.

Anstrengung ein. Österreich mochte noch so viele Polizei und Gerichte in Be- 
wegung setzen und Kerkerstrafen verhängen, die serbische Freiheits- 
bewegung durchdrang Land und Volk immer glühender und vollständiger. 
Über die Schwäche des Habsburger Staates war man sich klar, man kannte 
alle in ihm gegen ihn arbeitenden subversiven Kräfte und arbeitete mit ihnen 
und wußte, daß im Kriege sich diese Zwietracht und Feindlichkeit der 
Tschechen, der Polen, der Kroaten gegen die militärische Stärke und 
Aktionsfähigkeit direkt und gesteigert übertragen würde. Hatte doch auch in 
jener Zeit der fähigste aller österreichischen Generale, der spätere Feld- 
marschall Conrad von Hötzendorf, öffentlich gesagt: ‚Die Armee verdorrt!“ 
Wie ist es möglich gewesen, daß die deutsche Regierung die militärische 
Schwäche Österreich-Ungarns als Bundesgenossen im Kriege so wenig in 
ihren politischen Zukunftsberechnungen einberücksichtigt hat ? Wie bei so 
vielen Fragen, die wir bisher berührt haben, muß immer die gleiche Antwort 
gegeben werden: man glaubte in Berlin nicht an einen großen Krieg. 
Bei den vielen Versuchen später, die deutsche Bündnispolitik der letzten 
Jahre vor dem Kriege zu rechtfertigen, ist auch Bismarcks Stellungnahme 
betont worden: Interesse des Deutschen Reiches sei, die Großmachtstellung 
des Habsburger Staates zu stützen und, wenn nötig, zu schützen. Bismarck 
hat dies auch in seinem Bündnisbrief 1887 an den englischen Premierminister 
Lord Salisbury ausgesprochen: ‚Die Existenz Österreichs als einer starken 
und unabhängigen Großmacht ist für Deutschland eine Notwendigkeit, an 
der die persönlichen Sympathien des Herrschers nichts zu ändern ver- 
mögen.‘‘ Niemand kann die Richtigkeit dieses Urteils und des damit ver- 
bundenen politischen Standpunktes bestreiten. Aber die Voraussetzung 
dafür war unter allen Umständen, daß Österreich-Ungarn noch eine Groß- 
macht war. Daß es damit vorbei war, mußte man seit 1908 spätestens in 
Berlin wissen; der Generalstab wußte es, der Reichskanzler und das Aus- 
wärtige Amt mußten es wissen, und nicht zum wenigsten mußte es der 
Deutsche Kaiser wissen. Daß die politische Lage des Deutschen Reichs in 
den Jahren, die Bismarcks Entlassung folgten, immer schwieriger und ge- 
fährdeter geworden war, lag in Deutschland und in der Welt vor aller Augen. 
Daß die Orientpolitik des Kaisers das Deutsche Reich immer tiefer, wie 
Saugsand, mit den beiden ‚kranken Männern“: der Türkei und Österreich- 
Ungarn, verband, erregte, wie erwähnt, schon 1908 hier und da in Deutsch- 
land eine schwere, unheimliche Sorge. Und in den Jahren nach 1908, mit 
ihren Kriegen und Krisen in Europa und auf dem Balkan, gab die Politik des 
Kaisers und des Reichskanzlers die Bismarcksche Richtlinie völlig auf: sie 
begnügten sich nicht, hinsichtlich der Orientpolitik in der Hinterhand zu 
bleiben, sondern traten diplomatisch und politisch ein, an der Seite Öster- 
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