Full text: Von Potsdam nach Doorn.

weniger’ die der Völker, richtiger: Untertanen. Die Vorstellung des Kaisers, 
im deutschen Volk hauptsächlich siebenundsechzig Millionen Untertanen er- 
blicken zu sollen, ist von großem Einfluß auf die äußeren und inneren MiBß- 
erfolge seiner Regierung gewesen. Dieser Vorstellungskreis beeinflußte ihn 
auch dahin, die inneren Verhältnisse des ‚‚Völkerstaates‘“ Österreich-Ungarn 
lange nicht so ernst zu nehmen, wie es notwendig gewesen wäre. Aber da 
hatte man in der Umgebung des Kaisers, auch in der Wilhelmstraße, diefest- 
stehende Antwort: die Anhänglichkeit aller Untertanen des Kaisers von 
Österreich an ihn und an das uralte Kaiserhaus sei so tief eingewurzelt, daß 
ihm seine Völker alle mit der Parole: Sieg oder Tod begeistert folgen würden. 
Die anderen Mächte wußten es anders und besser als der deutsche Bundes- 
genosse. 
Nach der Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 
glaubte der Deutsche Kaiser ernsthaft, daß es sich um eine internationale 
anarchistische Organisation von Königsınördern handele. Auch die deutsche 
Presse wurde nach dem Schlagwort: Eine Bande von Fürstenmördern! 
„orientiert‘‘. Daß der Kaiser tatsächlich hieran glaubte, zeigte sich zunächst 
darin, daß er seine schon angekündigte Teilnahme an der Bestattung des 
Erzherzogs und seiner Gattin unter Vorschützen einer Erkältung wieder ab- 
sagte, da ja die Fürstenmörder vielleicht das Leichenbegängnis benutzen 
könnten, auch ilın zu töten. 
In dieser politischen Unkenntnis und Verständnislosigkeit für wirkliche 
Zusammenhänge hat Wilhelm II. wiederholt auch den Zaren zu gemein- 
samem Vorgehen mit ihm und dem österreichischen Kaiser gegen die an- 
gebliche „‚Anarchistenbande“ zu veranlassen versucht. Er dachte, die ganze 
europäische Welt werde sich im gleichen Sinne tief erschüttert und im 
Grauen vor solcher Ruchlosigkeit mit der Parole: „Gegen die Königs- 
mörder!‘‘ zusammenschließen. Daß die deutsche Öffentlichkeit, auf die 
Nachrichten und Informationen hin, zunächst ebenso dachte, war natürlich, 
aber die Wilhelmstraße mußte die Lage in Bosnien und aus ihr die Ursachen 
und Motive des Attentats kennen. Unnötig zu sagen, daß dieser Irrglaube 
dem Kaiser eine ganz unrichtige politische Sicht gab und damit eine Be- 
urteilung der wirklichen Lage zunächst unmöglich machte. Das war das 
Einde der sechsundzwanzig Jahre deutscher Irrgangspolitik. Was noch folgte, 
waren mehr oder minder verzweifelte, kopflose Versuche, aus der schon 
stürzenden Lawine ein harmloses Schneetreiben werden zu lassen. 
Auch über diesem Orientkapitel der Wilhelminischen Außenpolitik steht 
das Motto: Große Worte, Schwäche, Unentschlossenheit, Mißerfolg, Zu- 
sammenbruch! 
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