Die tiefe Erschütterung durch die Entlassung Bismarcks und die folgenden
Jahre des Kampfes der ‚ Bismarck-Fronde‘“ gegen den ‚‚Neuen Kurs“ hatten
doch in beinahe allen Parteien, auch in der damals großen Menge der Partei-
losen, die stille und laute Frage entstehen lassen: was wird nun der ‚Neue
Kurs“ ergeben, nach außen und nach innen ? Danach muß der Kapitän des
Reichsschiffs, der zugleich auch der Steuermann sein will, beurteilt werden!
In den letzten Jahren von Bismarcks Amtsführung war seine Außen-
politik in immer schärferen Tönen von seinen politischen Gegnern kritisiert
worden. Man vermißte, Erfolge zu sehen, und zum Schlagwort jener Jahre
wurde Eugen Richters Artikel: ‚Es gelingt nichts mehr!‘ Ob wirklich ein
Nachlassen in der Bismarckschen Führung der Außenpolitik eingetreten
war, mag dahinstehen. Tatsache auf alle Fälle war, daß die Schwierigkeiten
immer größer wurden, und zwar nicht zum wenigsten infolge der fort-
schreitenden Zerrüttung Österreich-Ungarns. Aber wo waren nun die Er-
folge des ‚Neuen Kurses“ ?
Wie es wohl meist der Fall ist, war ein großer Teil der allgemeinen Mei-
nung: die Alten hätten ja sicher ihre hohen Verdienste, aber ewig könnten
sie doch auch nicht an ihren Plätzen bleiben, die junge Generation müsse
endlich herankommen, die Zeiten hätten sich geändert, ein neuer, frischer
Zug, ein neuer Geist müsse das Deutsche Reich durchdringen. Der junge
Kaiser werde die Sache schon machen, Frieden wolle er ja halten, wie er in
seiner ersten Thronrede gesagt habe. Mehrere Jahre außerdem sei er ın Bis-
marcks Schule gewesen und würde — hoffentlich — schon wissen, wie er’s
anstellen solle, das sei alles nicht so schlimm, wie es vielleicht aussehen könne.
In einer seiner zahlreichen Reden hatte der neue Kaiser dem deutschen
Volk versichert: Herrlichen Tagen führe er es entgegen! Nach: Bismarcks
Entlassung hatte er gesagt: ‚Der Kurs bleibt der alte‘, und verließ imselben
Augenblick mit seiner Nichterneuerung des Russen-Vertrages den bisherigen
Kurs. Dann wieder erklärte er: ‚Mein Kurs ist der richtige, und er wird
weiter gesteuert!” Geduldig wartete der Bürger zunächst und harrte der
herrlichen Tage, aber während dieses Harrens vermochte er die Richtung des
neuen, für richtig erklärten Kurses nicht zu erkennen, geschweige denn
dessen Richtigkeit.
Man begriff nicht, wie die erste heiße Freundschaft mit England auf ein-
mal verschwand, weshalb es nötig sei, in schlechten Beziehungen mit Ruß-
land zu leben. Man sah nicht ein, weswegen der Kaiser an der Seite von
Frankreich und Rußland politisch gegen Japan eingriff, während kurz vor-
her Wilhelm II. Tischreden gehalten hatte, in denen er einen gemeinsamen
Kampf Deutschlands und Großbritanniens gegen Frankreich angedeutet
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