Deutsche Reich hatte seine Verfassung, über sie und die Geschichte des all-
gemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts ist gesprochen worden. Bis-
marck hatte vergeblich versucht, Wilhelm II. auf Grund der schlimmen Er-
fahrungen zum Kampf für die Abschaffung des Wahlrechts und für eine
neue Reichsverfassung zu gewinnen.
Der Kaiser hatte sich geweigert, vornehmlich weil er selbst die Kraft nicht
in sich fühlte, auch Bismarck den Kampf nicht überlassen wollte, weil ‚dann
der alte Kanzler wieder im Vordergrund stehen würde“. Die Reichsverfas-
sung war bestehen geblieben, ebenso wie die Verfassungen der Bundes-
staaten, und damit sah sich der Kaiser selbst auch auf die Verfassung an-
gewiesen, die seiner autoritären Betätigung bestimmte Schranken entgegen-
setzte. Später hat Wilhelm II. sich Eulenburg und anderen gegenüber ent-
rüstet verwahrt: was man immer von seinen absolutistischen Neigungen
rede! Niemand könne ihm nachweisen, daß er auch nur ein einziges Mal die
Verfassung verletzt habe. Und in Gesprächen sagte der Kaiser gering-
schätzig, aber sicher wahrhaftig: die Verfassung habe er niemals gelesen.
Der Onkel Eduard von England war klüger. Obgleich in Großbritannien
der König ohne das Kabinett bzw. Parlament überhaupt keinen Schritt tun
darf, hat er — ohne je ein Wort zu sagen, oder gar seine Mißbilligung gegen
die ehrwürdige Verfassung auch nur entfernt anzudeuten — ruhig und tat-
kräftig die auswärtige Politik in die Hand genommen, gleich nach seiner
Thronbesteigung auf einen neuen Kurs geführt, und sie dann bis zu seinem
Tode stillschweigend anerkanntermaßen geleitet, mit einer Unabhängigkeit,
die der Verfassung und der Überlieferung ins Gesicht schlug. Niemand in
England hatte oder sagte etwas dagegen, weil — ausschließlich weil der
König sein staatsmännisches Geschäft verstand, zu schweigen wußte, wenn,
wie, wo und wann es am Platz war und — Takt besaß und nicht eitel war.
Wilhelm II. hatte innerhalb des Rahmens der Reichsverfassung un-
gleich mehr Bewegungsfreiheit, Unabhängigkeit und Autorität, als der König
von England, schon dadurch, weil er jeden Tag den Reichstag nach Hause
schicken konnte. Auf der anderen Seite stand allerdings, daß jede Kritik, die
der Reichstag an der Außen- oder Innenpolitik der Regierung übte, indirekt
immer den Kaiser treffen mußte, denn er war es der verfassungsmäßig den
Reichskanzler auswählte und diesen, ebenso wie jeden Minister von heute
auf morgen entlassen konnte. Er machte hiervon auch sehr ausgiebigen Ge-
brauch: man rechnete erfahrungsmäßig mit drei Ministerwechseln im Jahre.
Nach Bismarck hat Wilhelm II. an Reichskanzlern ernannt und ver-
abschiedet: Caprivi, Hohenlohe, Bülow, Bethmann, Michaelis, Hertling. In
seinem Buch ‚‚Ereignisse und Gestalten‘‘ äußert er, Staatsmänner wären
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