Full text: Von Potsdam nach Doorn.

ihm berührten Gebiete einzudringen und sie zu beherrschen, wenn ihm die 
Regierungsgeschäfte nicht oblägen. 
Der Kaiser verfügt über ein vorzügliches Gedächtnis, eine Fähigkeit für 
jeden Menschen von höchster Wichtigkeit und besonders für einen Mon- 
archen. Abgesehen von ihrer rein zweckmäßigen Entwicklung und Übung, 
liebte der Kaiser besonders, sie Fremden zu zeigen. Diese fühlten sich, wohl 
mit äußerst geringen Ausnahmen, gedrungen, ihrer Bewunderung über- 
schwenglich Ausdruck zu geben. In Berlin gab es während der neunziger 
Jahre einen amerikanischen sogenannten Austauschprofessor, Peabody mit 
Namen. Als dieser von Deutschland schied, hielt er einen begeisterten Vor- 
trag über den Kaiser. Die Universalität des kaiserlichen Geistes sei bewun- 
dernswert, denn Wilhelm II. habe einmal beim Frühstück sämtliche Könige 
Assyriens lückenlos und in richtiger Reihenfolge hergesagt. Die deutsche 
Byzantinerpresse war außer sich vor Stolz: welch ein Geist, welch ein Wis- 
sen! Bewundernd sieht das Ausland auf unseren großen Herrscher, den 
genialen Hohenzollern!“ — Das Ausland lachte über die unbezwingliche 
kaiserliche Neigung, „Bewunderung zu ernten — sogar durch die alten 
Ägypterkönige.“ 
Typisch und charakteristisch ist das Folgende: Bei einem seiner Besuche 
in England sprach der Kaiser den Wunsch aus, einen Abend mit den Leitern 
deutschfeindlicher Blätter zuzubringen. Die Veranstaltung fand statt. Der 
Kaiser entfaltete sein ganzes und in Wahrheit großes Talent der Unter- 
haltung, der Bezauberung und Gewinnung in der ganzen Vielseitigkeit, die 
ihm zu Gebote stand. 
Die englischen Presseleute unterhielten sich ausgezeichnet. Nachher 
äußerten sie sich, teils öffentlich, teils vor Deutschen : eigentümlich sei döch 
immer, daß der Deutsche Kaiser glaube, auf diese Weise ihre politischen 
Überzeugungen umzuwandeln. Die deutsche Byzantinerpresse aber war voll 
Jubel und sagte: unser moderner genialer Herrscher habe einmal wieder 
gezeigt, wie viel weiter man komme mit einer ‚offenen Aussprache‘, und 
wie ein solcher politischer Abend mit dem Kaiser, der jedem seiner Teil- 
nehmer unvergeßlich sein werde, im Laufe weniger Stunden alle Miß- 
verständnisse zwischen den beiden so nahe verwandten Völkern zu klären 
imstande sei! Wie merkwürdig war, neben diese Phrasen gehalten, die Tat- 
sache: 
Seit seiner Kindheit war der Kaiser, der Sohn der englischen Mutter, in 
England wie zu Hause, und doch hat er, trotz aller Rückschläge, die er 
während seiner Regierung von englischer Seite erfuhr, die dreihundert Jahre 
alte englische Außenpolitik erst erkannt, als England den Weltkrieg ent- 
fesselt und gewonnen hatte, und vielleicht auch da noch nicht. 
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