Propagandageschäft. Einige Sätze mögen den Ton des ‚offenen Briefes‘
bezeichnen:
„Wie Napoleon einst für die ganzeWelt, so sind Sie, Majestät, kurz gesagt:
der Kaiser. Das sagt alles, der Kaiser, der Uäsar!
Heute sind die Augen Europas beständig nach den Ufern der Spree ge-
richtet. Sie sind das Idol, der Gott des Tages ... Sie sind, Majestät, ein sehr
moderner Fürst, sehr unterrichtet, sehr eingenommen für alles, was der
Banalität entgegengesetzt ist. Schon eine Bewegung von Ihnen hallt in der
ganzen Welt wieder. Wenn Sie die Karikaturen nicht frei in Deutschland kur-
sieren lassen, so werden Sie nicht mehr der friedliche und sehr moderne
Kaiser sin Majestät, geben Sie den Wink der Befreiuung, welchen die
Welt von Ihnen erwartet.‘ In seiner Vorrede verfehlte Grand Carteret
nicht, ausgiebig auf den großen Ahnherrn, Friedrich den Großen, hinzu-
weisen. — Das half: der Franzose erhielt umgehend die Erlaubnis, seine
Karikaturen auch in Deutschland zu vertreiben. Die Byzantiner und Hurra-
Patrioten, der heitere Durchschnittsbürger strahlten in Stolz und Freude,
und am Hofe flüsterten, aber hörbar, die Stimmen, das sei doch wirklich der
Geist Friedrichs des Großen. Verhältnismäßig wenige waren es, die den
Mangel an wirklicher Achtung und die kaum verschleierte kriechend höh-
nische Unverschämtheit bemerkten und Beunruhigung darüber empfanden.
Die Karikaturen aber waren gut berechnet, um in Deutschland den Kaiser
lächerlich zu machen.
Die Vereinigten Staaten, „das Land der unbegrenzten Möglichkeiten‘,
wie ein ‚„‚deutscher‘‘ Jude geschrieben hat, bildeten im damaligen Deutsch-
land des gewaltigen materiellen Aufschwungs den Gegenstand begeisterter
Bewunderung. Wie Bethmann-Hollweg 1919 von der Zeit vor dem Kriege
schrieb: „Die Geschäfte gingen glänzend.‘‘ Manche Züge erinnerten an die
Gründerzeit der siebziger Jahre. Der Unterschied lag darin, daß das Vor-
kriegsdeutschland seit den neunziger Jahren nicht mehr arm zu nennen war,
sondern jedes Jahr in steigendem Tempo an jährlichem Einkommen und
Gesamtvermögen wuchs. Die deutsche Arbeitsleistung war, nach Quantität
und Qualität, besonders in der Industrie, eine ungeheure. Die Landwirt-
schaft freilich konnte, nach der verderblichen Zollpolitik der neunziger
Jahre, erst nach Beginn des neuen Jahrhunderts wieder zu verhältnis-
mäßBigem Gedeihen gebracht werden.
Amerikanisierung der Geschäftsmethoden, in großem Stil „Geld zu
machen‘, rücksichtslos und brutal, war das Geschäftsideal vieler. Der
deutsche Nachahmungstrieb machte dabei nicht halt, der moderne Zeit-
genosse befleißigte sich, auch seine Lebensformen und in seinem Äußeren zu
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