Full text: Von Potsdam nach Doorn.

der Kaiser war, wie er war, er konnte, biblisch gesprochen, seiner Länge 
keine Elle zusetzen, er konnte sich keine Eigenschaften schaffen, die er nicht 
besaß. Was er aber konnte und mußte, das war die Heranziehung von Per- 
sönlichkeiten als Kanzler, noch besser äls Diktator, die diejenigen Kräfte 
besaßen, die ihm, dem Kaiser, felılten, denn schließlich ging es nicht allein um 
seine Krone, sondern um Deutschland. Aber auch diese Kraft, die Kraft der 
Selbstüberwindung, einzugestehen: Ich kann es nicht meistern, das muß ein 
anderer machen!, fehlte ihm. 
In den feindlichen Hauptmächten wurde die Regierung rein diktatorisch 
geführt: in Frankreich Clemenceau, in England Lloyd George, in den Ver- 
einigten Staaten Wilson. Das waren die großen Demokratien! Im Deutschen 
Kaiserreich, dessen Verfassung dem Kaiser im Kriege eine tatsächlich maß- 
gebende Macht in die Hand gelegt hatte — er hatte nur nötig, sie zu ge- 
brauchen —, machten innere Auflösung und auf manchen Gebieten des Le- 
bens Anarchie mit jedem Kriegsjahr weitere Fortschritte. In der Innen- 
politik waren allein die reichsfeindlichen Parteien vom Zentrum bis zu den 
Marxisten zielbewußt. Sie sahen und fühlten, daß ihre Zeit gekommen war. 
Ihre fähigsten Führer, Menschen von mittelmäßigster Begabung, wie Ebert, 
Scheidemann und andere, konnten bestimmenden Einfluß üben. Wollten sie 
etwas für ihre Innenpolitik, für die Außenpolitik, für die Kriegführung er- 
reichen, so gingen sie zu Bethmann-Hollweg und sagten ihm: er müsse un- 
bedingt ihre Forderungen bewilligen, denn sonst sei es ihnen unmöglich, die 
Massen an der Stange zu halten. Das wirkte unfehlbar auf den Kanzler und 
erst recht auf den Kaiser, hatte immer Erfolg. Und der Kaiser glaubte. wenn 
er sich einen der wenigen bewußt vaterländisch gesinnten Gewerkschafts- 
führer kommen ließ und mit ihm eine Unterhaltung gehabt hatte, die ihm 
gefiel, die Sozialdemokratie sei ja ‚gar nicht so schlimm‘. Kanzler und 
Kaiser duldeten, daß landesverräterische Abgeordnete frei umhergingen und 
an der Zerrüttung des Geistes in der Armee und in der Marine arbeiteten — 
„um des inneren Friedens willen!“ 
Während des letzten halben Jahres des Krieges ist gelegentlich auch von 
einer „Revolution von oben‘ gesprochen worden, die werde immerhin noch 
weniger verheerend sein als die sonst mit Sicherheit kommende Revolution 
von unten. Damals, in jenem Augenblick, war es aber zu spät auch hierzu, 
wie über dem ganzen Kriege das Wort stand: halb und zu spät! Auch 1918 
sogar wäre beinahe alles noch möglich gewesen, wenn neben, hinter und vor 
dem Kaiser ein Mann, sagen wir, wie Cleınenceau oder Lloyd George ge- 
standen hätte. T/nd diesen Mann einzusetzen, das wäre nicht nur die größte 
Tat des Kaisers während seiner Regierung gewesen, sondern tatz:uchlich 
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