Full text: Von Potsdam nach Doorn.

Kaisers Ansicht, zum Beispiel in seiner Auffassung und Behandlung der 
sozialen Frage nur schwere Fehler begangen, und er, der Kaiser, sei mit 
‚seinem heißen Ringen um die Seele des Arbeiters noch gerade zu rechter Zeit 
gekommen, um schlimme Dinge zu verhindern. Die, als solche hervor- 
gehobenen, schweren Fehler Bismarcks in der Außenpolitik und in ‘der 
inneren Politik, hauptsächlich der Kulturkampf, werden mit scheinbar 
edlem, schonendem Bedauern. besprochen oder erwähnt. 
Ohne Ausnahme ist es Wilhelm II. gewesen, der immer das Richtige, den 
einzigen richtigen Weg gesehen und erkannt, gesagt und befohlen hat. Wenn 
Mißerfolge eintraten, so sind es immer die Ratgeber gewesen. Sie haben seine 
Weisungen entweder nicht beachtet oder falsch ausgeführt oder wollten gar 
klüger sein als er, und — da ging es natürlich schief. Oder er, der Kaiser, 
unterdrückte seine bessere Einsicht aus Treue zur Verfassung und folgte 
seinen Ratgebern. Freilich habe es auch Fälle gegeben, wo sich ein böser Zu- 
fall einmischte, oder die ganz unanständige Handlung eines ruchlosen 
Feindes. 
Dabei hat, wie dieses Buch wohl genügend belegt, der Kaiser sich seine 
Ratgeber, nachdem er sein ‚‚dann regiere Ich selbst‘“ verwirklicht hatte, 
ganz nach Belieben und Stimmung gewählt und weggeschickt und nicht eben 
selten solche Wechsel vollzogen. Schließlich konnten die Ratgeber, sofern sie 
unfähig waren, nichts dafür, daß der Kaiser ihre Unfähigkeit nicht erkannte; 
daß ihm der Blick für richtige Wertbemessung von Menschen fehlte, der 
seinem Großvater in so hohem Grade eigen war. Dazu die Tatsache, daß 
Wilhelm II. den Allerunfähigsten und Verderblichsten seiner zahlreichen 
Berater, Bethmann-Hollweg, behielt, bis er ein nieht mehr aufzuhaltendes 
Verhängnis für das Reich geworden war; genug! 
Wer die Entwicklung von 1890 bis 1918 kennt, mehr oder weniger mit- 
erlebt oder nachträglich sich zu eigen gemacht hat, wird sich durch die 
kaiserlichen Darstellungen freilich nicht beirren lassen, höchstens einen un- 
angenehmen, um nicht zu sagen widerwärtigen, Eindruck vor dem Selbst- 
plädoyer Wilhelms II. erhalten. Nicht wenige andere dagegen lassen sich 
schon dadurch bis zu einem gewissen Grade bestechen, daß Wilhelm II. per- 
sönlich — ein richtiger Kaiser und König! — zur Feder gegriffen hat, um 
autoritativ nun einmal zu erzählen, wie alles ‚„wirklich‘‘ gewesen ist, er 
müsse es ja doch wissen, und er allein könne es wissen. 
Glücklicherweise können große geschichtliche Tatsachen nicht weg- 
geredet und nicht weggeschrieben werden. Das gilt vor allem von der ge- 
schichtlichen Tatsache, daß Bismarck dem Deutschen Reich, dem deutschen 
Volk und dem Kaiser und König eine große und reiche Erbschaft geschaffen 
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