Full text: Von Potsdam nach Doorn.

fassung in Aussicht gestellt, ergriffen vielleicht auch von der Größe des 
deutschen Gedankens. In den folgenden Jahrzehnten war diese in ihm 
wohl verblaßt und verdrängt durch die Realität des Deutschen Bundes, der 
Heiligen Allianz und der Metternichschen Ordnungspraxis. 
* 
Als im letzten Teile des Jahrhunderts der alte Kaiser Wilhelm I. unter 
dem Eindruck der gegen ihn verübten Mordanschläge den Ausspruch tat: 
man müsse dem Volke die Religion wiedergeben, war es viel zu spät, ab- 
gesehen davon, daß solches ‚wiedergeben‘‘ auf Befehl immer ein vergeb- 
liches Bemühen sein muß. Aber schon die Heilige Allianz, die alle Geist- 
lichen und Frommen im Lande in Bewegung setzte, hatte in der Hauptsache 
nur den Erfolg: eine um so heftigere Gegenbewegung zu entfesseln, teils aus 
Opposition gegen den christlichen Staat, teils unter dem Einfluß der mit 
jedem Jahre damals materialistischer werdenden Atmosphäre in Deutsch- 
land und auch in Preußen. Es war auch eine Reaktion dabei gegen die Philo- 
sophie des Idealismus, vielfach in Gestalt eines so krassen Materialismus, daß 
er an die Zeit der Aufklärung, an das ‚System der Natur‘ erinnerte. 
Weiter: das Zeitalter des Kapitalismus, der Industrie hatte eingesetzt; das 
„Bereichert euch‘, sogar der alteVoltairianismus wirkte noch in Deutsch- 
land. Die Dampfmaschine, die physikalischen Entdeckungen, die Natur- 
forschung, die vom Juden Marx und seinen französischen Vorgängern zur 
materialistischen Weltanschauung benutzte soziale Frage und soziale Not — 
alles das wirkte zusammen, um eine Strömung in der jeweils jüngeren Gene- 
ration zu erzeugen, der die Kirchen nicht gewachsen waren. 
Auf der anderen Seite drängten die Konservativen um so mehr mit der 
alten Parole auf den ‚Schutz von Thron und Altar‘, die einen wurden der 
religiösen Zersetzung im Gegensatz zum christlichen Staat beschuldigt, die 
andern der Heuchelei: die Religion diene nur dazu, das Volk dumm und da- 
durch im Gehorsam gegen die Obrigkeit zu erhalten. Anfang der vierziger 
Jahre schon hatte Marx sein Wort geschrieben : Religion sei Opium für das 
Volk, und Heine sein Gedicht veröffentlicht mit den Zeilen: ‚Den Himmel 
überlasseı. wir den Engeln und den Spatzen.‘ Das blutrünstige Heckerlied 
entstand. 
Scl »n bevor Friedrich Wilhelm der Vierte sich zum König von Preußen 
gekrönt hatte, knüpften sich an ihn, der so lange auf den Thron hatte warten 
müssen und — als er ihn bestieg — schon fünfundvierzig Jahre zählte, hoch- 
gespannte Erwartungen der Bevölkerung, und zwar ungefähr von allen 
Schichten. Vom alten König hatte man wohl schon seit längerer Zeit be- 
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