Full text: Von Potsdam nach Doorn.

Alles in allem: es war der unpolitische, vom deutschen Einheits- und vom 
politischen ‚Freiheits "gedanken begeisterte Deutsche jener Zeit in seiner 
komisch-traurigen und naiven Vollendung. 
Die mit folgerichtiger Notwendigkeit schon bald eintretende Ernüchte- 
rung wandelte verhältnismäßig bald die Begeisterung zum Spott und zu voll- 
kommener Geringschätzung. In den folgenden Jahrzehnten ist dann die 
Frankfurter Nationalversammlung zum historischen Musterbeispiel eines 
großen und ziellosen Geredes patriotischer Phrase, der Zerfahrenheit, Kanne- 
gießerei und Uneinigkeit geworden. 
Wir brauchen auf die einzelnen Phasen der Frankfurter Tagung nicht 
näher einzugehen, nur einige Hauptmerkpunkte mögen hervorgehoben sein. 
Eines hatten die 566 Abgeordneten gemeinsam: den Willen, zu einer 
Einigkeit und Einung der deutschen Stämme und Staaten zu gelangen. Aber 
das war auch aas einzige. Wie dieses Deutschland aussehen soll, auf welchen 
Wegen und mit welchen Mitteln man zu ihm gelangen wollte und zu können 
glaubte, das war die offenbleibende Frage. Unzählige Pläne, Programme, 
Denkschriften und Betrachtungen lagen beim ersten Zusammentreten vor 
und vermehrten sich beinahe mit jedem Tage. Wie wollte man es anfangen ? 
Es fehlte eine wirkliche Autorität, und es fehlte der dominierende Wille 
einer Persönlichkeit für die Leitung aller dieser durch freie Wahlen zusam- 
mengekommenen, untereinander so verschiedenen Menschen; es fehlte nicht 
zum wenigsten auch für jeden von ihnen die Bindung an eine klare Ver- 
antwortung. Zweifelsohne würde jeder von ihnen auf einen derartigen Ein- 
wurf geantwortet haben: Er sei gebunden an sein deutsches Gewissen und an 
die Verantwortlichkeit, die er seinen 50 000 Wählern gegenüber habe, und er 
würde dann eine mehr oder weniger lange Rede über die Lauterkeit seiner 
Absichten und die Richtigkeit seiner Ansicht gehalten haben. 
Das unübersteigbare Hindernis, zu einem positiven Ergebnis in Frank- 
furt zu gelangen, aber war der Glaube, man könne die deutsche Umgestal- 
tung erlangen durch Begeisterung allein, die obendrein, nach Goethe, keine 
Heringsware ist, und durch die beliebten Vernunftschlüsse, von denen jeder 
einzig die seinigen als zwingend für die anderen betrachtete. 
Am ersten Tage schon gab es einen großen Streit darüber, ob die Versamm- 
lung mit einem Gebet eröffnet werden sollte oder nicht. Die Leidenschaft 
dieses Streits zeigte unmittelbar, wie weit man weltanschaulich und religiös 
voneinander entfernt war: 
das eine Extrem: ‚Staatsreligion, Thron und Altar‘ als untrennbare 
Einheit; 
das andere: materialistische Gottlosigkeit; 
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