— 67 —
Die zur Vorprüfung der Vorlagen eingesetzte Kommission 1) war mit den
Grundzügen der Gesetze zwar einverstanden, hatte aber im einzelnen eine große
Neihe von Anderungsanträgen zu stellen. Da sie mit ihren Wünschen bei dem
Ministerium keine ungünstige Aufnahme fand, so sah sie dem Beginn der
Plenarberatungen mit guten Hoffnungen entgegen. Allein bevor noch die
Weihnachtsferien der vertagten Landesversammlung zu Ende gingen, fanden die
Neuwahlen zum Reichstage statt und brachten die unerfreuliche Überraschung,
daß die sozialdemokratischen Stimmen auf 352000, d. i. auf fast die dreifache
Anzahl gegenüber den Wahlen von 1871, angewachsen waren. Mit diesem
Ergebnis war das Geschick wenigstens des Wahlgesetzes von vornherein besiegelt.
Die Bedenklichkeiten des allgemeinen Stimmrechts erschienen mit einem Schlage
in ein ganz anderes Licht gerückt und hatten die Freunde der Vorlage, selbst
innerhalb der Kommission, zum größten Teil in deren entschiedene Gegner um-
gewandelt. Es lohnt nicht, die Einzelheiten der Verhandlungen weiter zu ver-
folgen. In erster Lesung des Wahlgesetzes fiel der entscheidende 5 2 (direkte
allgemeine Wahl) mit 29 gegen 16 Stimmen. Als dann das Gesetz über die
Zusammensetzung der Landesversammlung an die Reihe kam, war sofort zu
ersehen, daß die ausgedehnten und unfruchtbaren Beratungen über das Wahl-
gesetz die Teilnahme der Versammlung eigentlich erschöpft hatten und daß, nach-
dem jenes gefallen, auch in betreff des anderen Gesetzes keine Neigung vorhanden
war, den bisherigen Besitzstand der einzelnen Interessentengruppen unnötiger-
weise ändern zu lassen. Der Ausfall der Abstimmungen war denn auch über
die Maßen betrüblich. Zu § 1 der Vorlage, der die Zahl der Landesabgeordneten
feststellte, wurde angenommen nur der Antrag der Kommission, laut dessen die
Anzahl der Abgeordneten aus den Hoöchstbesteuerten auf 18 bestimmt wurde,
alles andere, die Vorschläge der Regierung, die Anträge der Kommission, ein
Antrag aus der Versammlung auf Wiederherstellung einer Vertretung der
Kirche, ging in einer Reihe ablehnender Beschlüsse spurlos unter (Sitzung vom
3. Februar 1874). Auch der Versuch der Kommission, in zweiter Lesung ein
annehmbares Ziel zu erreichen, erwies sich als verlorene Liebesmühe. War in
erster Lesung bei der Frage, aus wieviel Abgeordneten der einzelnen Interessen-
kreise die Landesversammlung bestehen solle, ein Mehrheitsbeschluß nur in
Beziehung auf die Zahl der Höchstbesteuerten erreicht, so geschah es jetzt nur
hinsichtlich der Abgeordneten der Landgemeinden; das allgemeine Wahlrecht ward
abermals verworfen und der im Wahlgesetz über das Wahlverfahren handelnde
Abschnitt mit allen Kommissionsanträgen in einer Abstimmung beiseite ge-
schoben. Auf das Schreiben der Landesversammlung, welches die trostlosen
Ergebnisse des dreitägigen Redekampfes der Regierung mitteilte, erwiderte das
Staatsministerium unterm 22. März 1874, daß die Vorlagen durch die Be-
schlußfassungen zu hinfällig und lückenhaft geworden seien, als daß ihre Durch-
führung noch tunlich erscheine, und daß die Landesregierung daher mit dem
1) Mitglieder Schmid, Köpp und Müller, letztere Beiden Rechtsanwälte in
Wolfenbüttel, Bautler, Kaufmann in Braunschweig, Haeusler, Rechtsanwalt in
Braunschweig.
57