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mann für jede Ansicht, die er vertreten will, mit Leichtigkeit bei=
pflichtende Äußerungen aus älterer Zeit zu zitieren imstande ist.
Selbst ein so hervorragender Denker wie Kant hat die Begnadi=
gung als einen Akt der höchsten Willkür bezeichnet. Allein die
heutige Wissenschaft hat allgemein diese Auffassung mit Ent=
schiedenheit verworfen. Es gibt keine Verfassungsurkunde, welche
nicht das Begnadigungsrecht ausdrücklich sanktioniert hätte. Und
wir glauben, daß es zur Rechtfertigung dieses Standpunktes gar
nicht der Anrufung von Gelehrten aus neuer oder alter Zeit be=
darf. Die Gründe, welche das Begnadigungsrecht unentbehrlich
erscheinen lassen, liegen so offensichtlich zu Tage, daß auch der
Befangenste sie erkennen muß. Es ist ernstlich niemals daran
gezweifelt worden, daß das Begnadigungsrecht nur dem Staats=
oberhaupt anvertraut werden kann. Es ist ein Ausfluß der
Souveränität. Wem sollte man das Recht auch anders anver=
trauen? Den Richtern gewiß nicht, denn deren Beruf ist es,
das Recht zu sprechen. Von seinen Richtern erwartet niemand,
etwas anderes zu finden, als sein Recht. Ist jemand freige=
sprochen, so würde dieser Freispruch an Wert verlieren, wenn die
Möglichkeit gegeben wäre, in ihm einen Akt der Gnade zu er=
blicken. Der Freigesprochene will sich auf ihn als auf einen Be=
weis seiner Unschuld berufen oder doch sagen können: bei un=
parteiischer genauester Untersuchung war mir eine Schuld nicht
nachzuweisen. Die klaren Grenzen zwischen Freispruch und Gnade
würden verwischt werden, wenn es dem Richter frei stände,
Gnade zu üben. Dem Parlament das Begnadigungsrecht zu
übertragen, verbietet sich — abgesehen von vielen anderen Gründen
— schon deshalb, weil die Parlamente gar nicht in der Lage
sind, alle Begnadigungsgesuche zu prüfen und zur erforderlichen
Zeit darüber zu befinden. Lueder hat in seiner 1860 erschienenen
Schrift: „Das Souveränitätsrecht der Begnadigung“¹¹⁸) die An=
sicht vertreten, daß Schranken des Begnadigungsrechtes wegen
¹¹⁸) J. C. F. L. Carl Lueder, Doktor der Rechte: „Das Souveränitätsrecht
der Begnadigung“. Leipzig, 1860, bei Wilhelm Engelmann, pag. 112 ff.