Der Weg der Gesetzgebung.
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5. Was die Art und Weise betrifft, in welcher die Kammern ihr verfassungsmäßiges
Recht der Teilnahme an der Gesetzgebung ausüben, so bestimmt sich diese, insoweit die
Verfassungsurkunde erschöpfende spezielle Bestimmungen hierüber nicht enthält, nach der
Geschäftsordnung der betreffenden Kammer. 1 Grundsätze können indes teils aus der Ver-
fassungsurkunde selbst, teils aus allgemeinen konstitutionellen Erwägungen hergeleitet werden.
a) Jedes der beiden Häuser berät und beschließt für sich allein. Können die beiden
Häuser sich zu einem gleichlautenden Beschlusse nicht vereinigen, so kann das Gesetz nicht
erlassen werden, weil jeder Kammer das volle Recht der Einwilligung gebührt? und dem
Könige ein Entscheidungsrecht über Meinungsverschiedenheiten derselben nicht zusteht.
Deputationskonferenzen zur Herbeiführung der Vereinigung beider Häuser sind in der
Verfassungsurkunde nicht vorgesehen, demgemäß als unzulässig zu betrachten; sie würden
nach preußischem Staatsrecht nur den Charakter von Privatverhandlungen tragen.3
zwo die andere Kammer über den betr. Ent-
wurf Beschluß gefaßt habe. Die Streitfrage
wurde indes bei dieser Gelegenheit nicht zum
Austrage gebracht, sondern in einer motivierten
Tagesordnung ausgesprochen, „daß derselben als
einer wichtigen Verfassungsfrage, nicht durch Be-
schlüsse über die Gesch. O. einer Kammer vorge-
griffen werden könne“ (vgl. Stenogr. Ber. der 2.K.
a. a. O. und Ber. der Gesch. O. Komm. der 2. K.
v. 17. Jan. 1853, in deren Drucks. Nr. 39). Tat-
sächlich ist es früher öfter geschehen, daß die Staats-
regierung ihre Entwürfe gleichzeitig in beide
Häuser eingebracht hat; allein dann hat sich die
Sache praktisch so gestaltet, daß die Plenar-
beratungen in dem einen Hause erst nach Beschluß-
fassung des anderen eingetreten sind. Dagegen
liegen allerdings Fälle vor, wo die Beratungen
in den Kommissionen beider Häuser nebeneinander
hergegangen und die Beschlüsse der Kommissionen
sogar (zur Beförderung des Geschäftsganges)
wechselseitig mitgeteilt worden sind. In einem
Präzedenzfalle (welcher eine Verfassungsänderung
betraf) wurde indes ein Antrag des Präsidenten
der 1. K. auf Innehaltung desselben Verfahrens
von dem Präsidenten der 2. K. ohne Widerspruch
der letzteren abgelehnt (vgl. das Nähere über die
vorgekommenen Präzedenzfälle in den angef. Druckf.
Nr. 39). Es ist unzweifelhaft mit Recht an-
genommen worden, daß die Streitfrage nicht in
der Gesch. O. ihre Lösung finden kann, sondern
daß ihre Entscheidung in der Form einer authen-
tischen Deklaration der Verf. Urk. würde erfolgen
müssen, — schon deshalb, weil dabei die Krone
ebensowohl interessiert ist als die Kammern, und
weil den Rechten jener nicht durch Normen der
ausschließlich der Autonomie jeder Kammer über-
lassenen Gesch. O. (Art. 78 der Verf. Urk.) prä-
judiziert werden kann. Ebenso ist nicht zu be-
zweifeln, daß, weil jeder Kammer das Recht zu-
steht, ihre Gesch. O. selbständig zu regeln, ihr
auch die Befugnis zusteht, zu beschließen, ob sie
sich mit einem beiden Häusern zugleich vorgelegten
Vorschlage gleichzeitig neben dem anderen Hause
beschäftigen oder dessen Beschlüsse vorerst ab-
warten will. Dies um so mehr, als die Fest-
setzung der Tagesordnung jedenfalls dem Präsi-
denten (in gewissen Fällen unter Teilnahme des
betr. Hauses) gebührt und der Staatsregierung
eine entscheidende Stimme dabei niemals zusteht.
Damit ist indes der Streit nicht prinzipiell ent-
schieden, wenngleich praktisch von minderer Er-
heblichkeit geworden. — Im J. 1859 hat die
Staatsregierung erklärt, daß die gleichzeitige
Mitteilung von Gesetzvorlagen an beide Häuser
lediglich den Zweck verfolge, eine vorbereitende
Beratung, und dadurch eine Beschleunigung der
Sache zu ermöglichen, und daß bei diesem Ver-
fahren die Absicht eines Eingriffs in die ver-
fassungsmäßigen Rechte des betr. Hauses nicht
vorliege. Die Komm. des A. H., in welcher diese
Erklärung (durch den Fin. Min. v. Patow) ab-
gegeben worden, hat hierauf zwar von einer
weiteren Erörterung des Gegenstandes Abstand
genommen, jedoch Verwahrung dagegen eingelegt,
daß das von der Staatsregierung eingeschlagene
Verfahren gleichzeitiger Einbringung von
Gesetzentwürfen in beide Häuser, insbesondere
von Finanzgesetzentwürfen, jemals die Bedeutung
einer Präzedenz erlange (vgl. den Komm. Ber.
des A. H. v. 9. Mai 1859, Stenogr. Ber. des A. H.
1859, Bd. IV, S. 835, und Drucks. desselb. 1859,
Bd. V, Nr. 189, S. 8—9). Vgl. über die Materie
auch die Verhandl. in der Sitzung der 2. K. v.
15. Jan. 1851, in den Stenogr. Ber. der 2. K.
1850 —51, Bd. I, S. 101 ff. und insbes. S. 112 (am
Schlusse). Gegen v. Rönne haben sich erklärt:
v. Gerber, Grundzüge, 3. Aufl., S. 149, N. 2;
G. Meyer-Anschütz, §. 158, S. 565; Schwartz,
Verf. Urk., S. 204 f.; Bornhak I, S. 525 f.;
v. Stengel, S. 169; H. Schulze, Preuß. St. R.,
Bd. II, S. 201, welcher jedoch anerkennt, daß
Gründe der Zweckmäßigkeit und die allgemeine
konstitutionelle Theorie dafür sprechen, daß Gesetz-
vorlagen immer einem Hause zuerst gemacht
werden. Die Staatsregierung selbst hat indes
anerkannt, daß es nicht zulässig sei, einen von
der Staatsregierung aufgestellten Gesetzvorschlag
gleichzeitig in beiden Häusern des Landtages ein-
zubringen (vgl. Schreiben des Min. Präs. Grafen
v. Bismarck v. 10. Mai 1867 an den Präs.
des H. H., in den Stenogr. Ber. des H. H. 1867,
S. 14—15).
1 Aus diesem Grunde lassen sich allgemeine
und für alle Zukunft geltende Regeln über den
Gegenstand nicht aufstellen. Uber den nach den
jetzt bestehenden Geschäftsordnungen zu beobachten-
den Geschäftsgang in bezug auf Gesetzvorlagen
und Gesetzvorschläge vgl. oben Bd. 1, §. 35, VI,
S. 405 ff.
2 Verf. Urk. Art. 62, Abs. 2.
3 Bei der Revision der oktr. Verf. Urk. vom
5. Dez. 1848 kam im Zentralausschuß der 1. K.
(bei Beratung über den jetzigen Art. 62) zur
Sprache, daß die Bestimmungen der Verf. Ur?.