28 Die Gesetzgebung. (8. 112.)
a) zunächst nicht in Zweifel zu ziehen, daß in den angeführten Worten des Art. 63
eine Verpflichtung der Staatsregierung zur Vorlegung derartiger Verordnungen der
Landesvertretung gegenüber hat festgestellt werden sollen, wodurch mithin für die letztere
zugleich das Recht gegeben ist, diese Vorlegung zu verlangen und, wenn sie verzögert
wird, zu beantragen. Auch kann nicht bestritten werden, daß, da ausdrücklich vor-
geschrieben ist, daß die Vorlegung sofort nach dem nächsten Zusammentritt der Kammern
erfolgen muß, also für die Ausübung jenes Rechtes der Landesvertretung eine Zeit,
wenn auch nur relativ, verfassungsmäßig festgestellt ist, ohne Zustimmung des Berech-
tigten der eingetretene Zeitpunkt der Ausübung des Rechtes rechtlich nicht weiter hinaus-
geschoben werden darf.
b) Streitig ist dagegen geworden, ob die Staatsregierung jedem der beiden Häuser
sofort nach ihrem Zusammentritt derartige Verordnungen vorzulegen habe oder ob die
Vorlegung an eines der Häuser genüge. Die erstere Ansicht muß indes für die richtige
erachtet werden; denn abgesehen davon, daß hierauf schon die in Art. 63 gebrauchte
Mehrzahl „den Kammern“ hinweist, ergibt sich dies auch aus dem Umstande, daß beiden
Häusern gleichmäßig die Berechtigung zusteht, sofort bei dem Beginne ihrer Sitzungen
darüber seitens der Staatsregierung befragt zu werden, ob sie die Genehmigung der
Notverordnung erteilen oder versagen wollen. Dies Recht würde aber demjenigen Hause
verkümmert werden, welchem die Verordnung nicht sofort bei dem Beginne seiner legis-
lativen Tätigkeit vorgelegt würde.
4. Die Notverordnung ist außer Kraft zu setzen, sobald auch nur einer der beiden
anderen Faktoren der Gesetzgebung ihre Nichtgenehmigung ausgesprochen hat."“
Eine
1 v. Gerber, Grundzüge, 3. Aufl., S. 155,
Note 6) ist der Ansicht, daß es die Pflicht der
Regierung sei, die Notverordnung sofort vorzu-
legen, und daß, wenn sie dies nicht tue, die
Kammern befugt seien, aus eigenem Antriebe
darüber zu beschließen, ob sie ihr nachträglich zu-
stimmen sollen oder nicht. Dies ist jedoch insofern
unzutreffend, als immer eine „Vorlage“ seitens
der Regierung für die Beschlußfassung erforder-
lich ist; andernfalls müßte ein anderer Weg ge-
wählt werden, um die Meinung der Kammern
zum Ausdruck zu bringen (vgl. Stenogr. Ber.
der 2. K. 1850—51, Bd. I, S. 103, 108). Aus
dem Rechte der Gesetzesinitiative (Art. 64) folgt
für die Frage gar nichts.
2? Vgl. den Ber. der Justizkomm. der 2. K. v.
11. Jan. 1851 (Drucks. Nr. 12 u. Stenogr. Ber.
der 2. K. 1850—51, Bd. III, S. 151 ff.), wo-
nach über die obigen Grundsätze eine Meinungs-
verschiedenheit in der gedachten Kommission nicht
bestanden hat. Was aber das Wort „sofort“
betrifft, so kann dasselbe keine andere Bedeutung
haben, als daß die Verordnung in der ersten
oder doch in einer der ersten Sitzungen vorge-
legt werden muß. Geschieht dies nicht, so kann
das Recht der Kammern nicht in Frage gestellt
werden, die Staatsregierung dazu aufzufordern.
3 Dies hat auch die Justizkomm. der 2. K. (in
ihrem Ber. v. 11. Jan. 1851 (Stenogr. Ber.
1850—51, Bd. III, S. 151—53) angenommen.
Im Plenum der 2. K. ist die Streitfrage nicht
entschieden, sondern in dem dazu Veranlassung
gebenden Falle eine ihrer endgültigen Entschei-
dung nicht vorgreifende motivierte Tagesordnung
angenommen worden (Stenogr. Ber. a. a. O.,
Bd. I, S. 101—115). Der Grund für die ent-
gegengesetzte Meinung, daß die Vorlegung an
eine Kammer genüge, ist außer der Berufung
auf Präzedenzfälle, in welchen so verfahren wor-
den, die indes selbstredend keine rechtsgültige Ob-
servanz gegen ein verfassungsmäßiges Recht der
Kammern haben einführen können, die Behaup-
tung, daß Notverordnungen den Kammern gegen-
über, welchen sie zur Genehmigung vorgelegt
werden, nichts als Gesetzentwürfe seien; deshalb
hänge es von dem Befinden der Staatsregierung
ab, in welches von beiden Häusern sie solche
zuerst einbringen wolle. Allein der Vorder-
satz, daß Notverordnungen mit den Gesetzentwür-
fen auf gleicher Stufe ständen, ist unzweifelhaft
unrichtig. Bei einem Gesetzentwurf handelt es
sich darum, ob er Gesetz werden soll; bei einer
Notverordnung ist umgekehrt die Frage, ob sie
unter gewissen Umständen aufhören soll, Gesetzes-
kraft zu haben. Uber letzteres zu befinden, ist
ein Recht eines jeden der beiden Häuser. So
gewiß die Staatsregierung Gesetzentwürfe nicht
gleichzeitig in beide Häuser einbringen darf, so
gewiß ist sie zufolge der rechtlichen Natur der
Notverordnungen verpflichtet, solche gleichzeitig in
beiden Häusern einzubringen. Die Abweichung
von dem einen wie von dem anderen verletzt das
Grundprinzip des Zweikammersystems und somit
die Verfassung. Die Gleichstellung von Notver-
ordnungen mit Gesetzentwürfen ist aber auch
deshalb unpassend, weil bei diesen die Staats-
regierung das Recht hat, sie jederzeit zurückzu-
ziehen, niemals aber bei jenen. Auch v. Schulze,
St. R., Bd. II, §. 174, S. 36, ist der Ansicht,
daß die Staatsregierung verpflichtet ist, eine Not-
verordnung beiden Kammern zugleich sofort
nach deren nächstem Zusammentritte zur Geneh-
migung vorzulegen. Ebenso Schwartz, Verf.
Urk., S. 210.
4 A. A. war v. Rönne ((4. Aufl., Bd. 1,
S. 375), der ein ipso-jure-Außerkrafttreten der
Verordnung in diesem Falle annahm und dazu
bemerkte: „Die Richtigkeit dieses Satzes ist von