232 Zweiter Abschnitt. (F. 63.)
F. 63.
J) Die Reform des Gemeindeabgabenwesens.
Nur in großen Zügen sind im Vorangehenden die einzelnen in der preußischen
Monarchie um 1867 geltenden Gemeindesteuersysteme skizziert, aber dies genügt
schon, um sich ein Bild von den damaligen Verhältnissen zu machen. Nicht genug,
daß, wie es heute leider noch bezüglich des Verfassungsrechts der Gemeinden der Fall
ist, ihr Besteuerungsrecht formell in einer Menge von Gesetzen geregelt war, auch
materiell war dasselbe in den einzelnen Rechtsgebieten zum Teil auf ganz verschiedenen
Grundsätzen aufgebaut. In dem einen wurden die direkten Steuern, in dem anderen
die indirekten als das Reguläre betrachtet; in dem einen wurden Zuschläge zur Staats-
steuer, in dem anderen besondere Gemeindesteuern bevorzugt; nirgends war ein Verhält-
nis angegeben, in welchem die Gemeinden die einzelnen Steuerarten für ihre Zwecke
dienstbar zu machen hatten, sie konnten kommunale Einkommensteuer in Form von Zu-
schlägen oder selbständig erheben, ohne gleichzeitig die Realsteuern heranzuziehen, und
umgekehrt. Die meisten Gemeindeverfassungsgesetze, besonders die der neuerworbenen
Gebietsteile, waren in ihren Bestimmungen über das Gemeindesteuerwesen überdies so
lückenhaft, unbestimmt und unklar, daß sie der Willkür der einzelnen Gemeinden völlig
freien Spielraum ließen. Ein wirkliches Abgabensystem galt daher, abgesehen von den
größeren Städten, nur in den wenigsten Gemeinden. Willkürlich und prinziplos wurden
selbständige Gemeindesteuern und Zuschläge bald zu dieser, bald zu jener Staatssteuer
erhoben, diejenige, welche am meisten einbrachte, wurde am stärksten herangezogen, die
wenig einträgliche völlig freigelassen.
Die Reformbedürftigkeit dieser Zustände lag auf der Hand, und es ist kein Wunder,
daß das Gemeindeabgabenwesen, um welches bis dahin weder die Theorie noch die
praktische Politik sich gekümmert hatte, um die Mitte der sechziger Jahre zur „brennenden
Frage“ erhoben wurde. Nachdem zunächst Männer der Wissenschaft, besonders Anhänger
der sogen. Freihandelsschule, die allgemeine Aufmerksamkeit auf dieses Gebiet gelenkt
hatten, begann man auch in volkswirtschaftlichen Kongressen und in den parlamentarischen
Verhandlungen sich mit der Gemeindesteuerfrage zu beschäftigen 1; die Beratungen des
Ausführungsgesetzes zum Unterstützungswohnsitzgesetz, der Kreisordnung, des Gesetzes über
die Aufhebung der Mahl= und Schlachtsteuer und der Provinzialordnung boten hierzu
reichlich Gelegenheit.? Der erste praktische Erfolg aller dieser Erörterungen, bei denen es
sich wesentlich um die Frage drehte, ob man das Kommunalabgabenwesen auf Grund
des bestehenden Staatssteuersystems reformieren könne, oder ob man, wie es zuerst von
der Freihandelsschule gefordert war, dem Staate die Realsteuern entziehen und sie den
Gemeinden überweisen müsse, war ein Gesetzentwurf über die Kommunalbesteuerung,
welcher im Jahre 1876 von der Regierung auf Anregung des Abgeordnetenhauses auf-
gestellt wurde. Derselbe wurde, nachdem er zahlreichen Behörden zur Begutachtung zu-
gegangen war, auch der Offentlichkeit übergeben, wo er lebhafte Diskussionen hervorrief,
aber weiter zu keiner Bedeutung gelangte. Nicht viel weiter gedieh ein zweiter Ent-
wurf, welchen die Regierung im Jahre 1877 dem Landtage zur verfassungsmäßigen
Beschlußnahme vorlegte, und welcher das Kommunalabgabenwesen im Anschlusse an das
bestehende System der Staatssteuern für den Umfang der ganzen Monarchie — mit
Ausschluß der ein eigentümliches Staatssteuersystem habenden Hohenzollernschen
Lande — einheitlich regeln wollte.3 Über diesen Entwurf wurde von der damit beauf-
tragten Kommission ein Bericht erstattet“, er gelangte jedoch nicht zur Beratung im Land-
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überlassen. In Nassau waren nach einer Vog. seinem Kommentar des Kommunalabgabengesetzes
v. 24. Okt. 1864 alle Gemeinden zur Erbebung mit.
der Hundesteuer verpflichtet. à* Adickes, S. 14—28.
1 Den wichtigsten Inbalt aller dieser Ver- 3 Drucks. des A. H., Nr. 72.
bandlungen teilt Adickes in der Einleitung zu * Drucks. des A. H., Nr. 206.