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Ortsgemeinden; das geltende Recht.
angenommen, daß sie als legitimiert zu erachten sei, im Streitverfahren über Zwangs-
etatisierungen ihre Rechte und damit auch die Rechte der Gemeinde an Stelle oder
neben dem Magistrate zu wahren.I Was den Unfang der richterlichen Prüfung im
Streitverfahren anlangt, so beschränkt sich diese nicht auf die formelle Berechtigung
zur Zwangsetatisierung, sondern muß sich auch auf das Vorhandensein der materiellen
Voraussetzungen derselben erstrecken; zu den Voraussetzungen gehört vor allem die Fest-
stellung, auch diese muß der Verwaltungsrichter nachprüfen, aber dem Wesen der Rechts-
kontrolle entsprechend nicht auf ihre Angemessenheit, Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit,
sondern nur dahin, ob sie gesetz= oder rechtswidrig ist, weil ihr positive Rechtsnormen
entgegenstehen, dder weil bei ihr in objektiver Beziehung kommunale Interessen überhaupt
nicht obwalten.?
Als außerordentlichen Ausfluß des staatlichen Aufsichtsrechts kann man endlich die
nach mehreren Gemeindeverfassungsgesetzen zulässige Auflösung der Gemeindevertretung
ansehen, deren Voraussetzungen und Formalitäten oben S. 117 ff. und 187 bereits
erörtert sind.
Sechster Titel.
§. 95.
Die Gutsbezirke.
I. Begriff, Entstehung und Aufhebung der Gutsbezirke.
Auf dem platten Lande stehen in einem großen Teile der Monarchie neben den
Gemeinden als unterste Bezirke für die örtliche Staats= und Kommunalverwaltung die
selbständigen Gutsbezirke, d. h. räumlich abgegrenzte Gebiete, deren Territorien
und deren Bewohner nicht durch einen Gemeindeverband zusammengehalten werden, son-
dern der obrigkeitlichen Gewalt eines Gutsherrn unterworfen sind.“ Innerhalb eines
solchen Gebietes hat der Gutsherr alle Pflichten und Leistungen zu erfüllen, welche im
Gemeindebezirk der Gemeinde als Gesamtheit obliegen; der Gutsherr ersetzt für seinen
Gutsbezirk den Gemeindeverband, er allein kann sich berechtigen und verpflichten. —
Der Gutsbezirk ist lediglich Bezirk für die Verwaltung, er ist kein Verband 5, er hat
keine korporative Verfassung. Der Begriff des Gutsbezirks ist aber ein lediglich öffent-
lich-rechtlicher, daher ist er unabhängig von privatrechtlichen Verhältnissen. Der Guts-
bezirk deckt sich gewöhnlich räumlich mit dem Gute, an dessen Besitz die Gutsherrlichkeit
haftet, notwendig ist dies aber nicht; es können auch Grundstücke, welche nicht im Eigen-
tum des Gutsherrn stehen, zum Gutsbezirk gehören. Der Bestand des Gutsbezirks ist
daher unabhängig von Veränderungen der Eigentumsverhältnisse an dem Grund und
Boden: außerhalb des Gutsbezirks in einem Gemeindebezirk belegene Grundstücke, an
welchen ein Gutsherr Eigentum erwirbt, scheiden dadurch nicht aus dem Gemeindebezirk
dorffs Encyklopädie (5. Aufl.), S. 1178, 1179;
1 O. V. G., XIX, S. 112. Die Frist für
die Anstellung der Klage läuft aber mangels
besonderer anderweiter Bestimmung auch für die
Gemeindevertretung mit der Zustellung der
Zwangsetatisierungsverfügung an den Ge-
naewinevorstand ab. Vgl. auch O. V. G., XIV,
. 89.
2 O. V. G., XIV, S. 107; ruch 7, S. 73;
XIII, S. 61, 68, und XX, S. 6
6 Zum Folgenden vgl. Kisnbenl- Genzmer,
Entstehung u. Rechtsverhältnisse der Gutsbezirke,
S. 30 ff.; Schulze, Preuß. Staatsrecht, I1,
S. 495; v. Möller, L., §. 135; Grotefend,
§. 220; E. v. Meier, Verw. R., in Holtzen=
v. Stengel, Organisation. S. 234 ff., und in
v. Stengels Wörterbuch, I, S. 618, s. v. „Guts-
bezirk“; Blodig, Selbstverwaltung, S. 267 ff.
B0gl. oben S. 68.
* Wenn das O. V. G., I, S. 110 den Guts-
bezirk gleich der Gemeinde als einen „kommu-
nalen Verband“ bezeichnet, so halte ich diese
Bezeichnung für unzutreffend. Dem Gutsbezirk
fehlt das Eigentümliche jedes Verbandes, das
Verbundensein der Mitglieder untereinander.
*Gesetzlich anerkannt besonders in §F. 8 des
preuß. Ausf. Ges. zum Unterstützungswohnsitz-
gesetz v. 8S. März 1871 (G. S., S. 130).
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