Full text: Europäischer Geschichtskalender. Sechster Jahrgang. 1865. (6)

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Deutschland. 
Motivirung: „Die schlesw.-holst. Angelegenheit wird nur im Zu- 
sammenhange mit der deutschen Verfassungsreform definitiv geordnet werden. 
Das dem Frankfurter Fürstentage vorgelegte Reformprojekt Oesterreichs ist, 
wie der Versuch einer Reform im Wege der Ausschließung Oesterreichs und der 
Unterordnung des übrigen Deutschlands unter die preußische Spitze erfolglos gewesen. 
Der Reformverein und der Nationalverein scheinen ihrer Auflösung nahe zu 
sein. Die Ueberzeugung verbreitet sich, daß auf den eingeschlagenen Wegen das 
Einheitsstreben der Nation nicht sowohl befriedigt, als im Interesse der Macht- 
vergrößerung des einen oder andern deutschen Großstaats benützt werden soll. 
Die Einigung zwischen Preußen und Oesterreich gestattet dem Bunde nur ein 
Scheinleben und gefährdet, wenn sie Bestand haben sollte, die Zukunft Deutsch- 
lands mehr als ihr Zwiespalt. Man kann es beklagen, aber nicht bestreiten: 
jener Sondergeist, welcher die Ausbildung der Landesherrlichkeit in Deutschland 
begünstigt und die Auflösung des deutschen Reichs mit herbeigeführt hat, ist 
noch heute in den souveränen Einzelstaaten lebendig; er widerstrebt in noch 
höherem Grade, als der Einheit des alten Reichs, der Unterwerfung des 
schwächeren Einzelstaats unter den mächtigeren. Die Einheit in dieser Form 
kann nicht im Wege der moralischen Eroberung, sondern nur durch Gewalt, 
„mit Eisen und Blut“, herzustellen versucht werden. Der Versuch müßte aber, 
da die Einheit nicht weiter sich erstrecken würde als die Gewalt, zur Zer- 
reißung Deutschlands und überdieß zur Einmischung des Auslands führen. 
Die geschichtliche Aufgabe unserer Zeit ist, jenen Sondergeist, anstatt gewaltsam 
zu unterdrücken, mit der Idee der politischen Einheit der Nation zu versöhnen. 
Diese Versöhnung ist nur in der föderativen Verfassung Deutsch- 
lands möglich; sie allein entspricht der Eigenart der deutschen Nation und 
gestattet eine Vereinigung wenigstens derjenigen einzelnen Glieder, welche das 
Bedürfniß, einem größeren politischen Ganzen anzugehören, fühlen, ohne es 
durch ihr Aufgehen in einem mächtigen Einzelstaat befriedigen zu wollen. 
Selbst unter den Stammesgenossen in den zur Zeit bestehenden deutschen 
Großstaaten hat das moderne Großmachtsbewußtsein das deutsche Wesen und 
die geschichtlichen Erinnerungen nicht so ganz verdrängt, daß nicht eine solche 
Föderation Sympathie und Unterstützung fände und die Hoffnung begründet 
wäre, dieselbe werde mit der Zeit die gesammte Nation umfassen. Nur in 
föderativer Form kann die gesammte deutsche Nation ihre getrennten Glieder 
einigen, ohne die Eifersucht und Einmischung des Auslands hervorzurufen, 
und den übrigen Nationen friedlich die Hand zur gemeinschaftlichen Lösung 
der großen Aufgaben unserer Zeit reichen. Wenn die Herstellung der Ein- 
heit Deutschlands in der Form der Unterordnung unter einen mächtigen Einzel- 
staat nur im Wege der Gewalt versucht werden kann, so kann die Einheit 
in föderativer Form nur auf dem, dem demokratischen Geiste der Zeit allein ent- 
sprechenden Wege der Freiheit und der Selbstbestimmung der ein- 
zelnen Bundesglieder verwirklicht werden. Der demokratische Fortschritt in 
den Verfassungs- und Verwaltungszuständen der deutschen Einzelstaaten ist 
daher nicht bloß Zweck für sich, sondern das wichtigste Mittel zur 
Erreichung des großen nationalen Zieles selbst. Es gibt kein Mittelding 
zwischen dem vergrößerten preußischen Einzelstaate des Herrn v. Bismarck 
und dem Föderativstaat der Demokratie; die Entscheidung für und wider 
kann nicht zweifelhaft sein. Die Einheit ist ohne Dauer und Werth, 
wenn sie nicht das Produkt der Freiheit ist. Es ist an der Zeit, daß 
die unheilvolle Zerfahrenheit endige, welche die Parteien des Fortschritts in 
Deutschland so lange beherrscht. Alle, welche ein freies und einiges Vaterland 
wollen, mögen sie dem National- oder Reformverein angehört haben, oder 
diesen Vereinen ferne geblieben sein, müssen sich unter den jetzigen kritischen 
Verhältnissen aufgefordert fühlen, mit Hintansetzung untergeordneter Meinungs- 
verschiedenheiten, thatkräftig zusammen zu wirken; droht doch das undeutsche 
Bündniß zwischen Preußen und Oesterreich in der Sache der Herzogthümer