Full text: Europäischer Geschichtskalender. Sechster Jahrgang. 1865. (6)

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Amerika. 
die Vernichtung der einen ist die Vernichtung der andern, die Erhaltung der 
einen ist die Erhaltung der andern. 
„Ich habe meine Ansichten betrefss der gegenseitigen Beziehungen der 
Verfassung und der Staaten solchermaßen dargelegt, weil sie die Principien 
enthüllen, auf Grund deren ich die gewichtigen Fragen zu lösen, und die 
ängstigenden Schwierigkeiten, welche sich mir gleich im Anfang meiner Ver- 
waltung entgegenstellten, zu besiegen gestrebt habe. Es ist mein unverrücktes 
Ziel gewesen, mich dem Einflusse momentaner Leidenschaften zu entziehen, und 
in den fundamentalen und unabänderlichen Grundsätzen der Verfassung eine 
heilende Politik zu finden. 
Politik gegen den Süden. „Ich fand die Staaten unter den Fol- 
gen eines Bürgerkriegs niedergedrückt. Der Widerstand gegen die allgemeine 
Regierung schien sich erschöpft zu haben. Die Ver. Staaten hatten wieder 
Besitz ergriffen von ihren Festungen und Arsenalen, und die Armeen hielten 
jeden Staat, der sich loszureißen versucht hatte, besetzt. Ob das Gebiet inner- 
halb der Gränzen jener Staaten als erobertes Land unter der von dem Prä- 
sidenten als dem Haupt der Armee ausgehenden Autorität zu halten sei, war 
die erste Frage, die sich zur Entscheidung darbot. 
„Es würden aber Militärregierungen, auf unbestimmte Dauer eingesetzt, 
keine Gewißheit einer baldigen Unterdrückung der Unzufriedenheit gewährt 
haben; sie würden das Volk in Sieger und Besiegte gespalten und eher den 
Haß verbittert, als die Zuneigung wiederhergestellt haben. Einmal eingesetzt, 
war ihre Fortdauer an keine berechenbare und feste Grenze gebunden. Sie 
würden unabsehbare und verderbliche Kosten verursacht haben. Friedliche 
Auswanderung nach und aus jenem Theil des Landes ist eines der besten 
Mittel, welche für die Wiederherstellung der Eintracht ersonnen werden können, 
und diese Auswanderung würde verhindert worden sein. Denn welcher Ein- 
wanderer, welcher arbeitsame Bürger im Lande würde sich gern unter mili- 
tärische Herrschaft stellen? Diejenigen, welche zumeist der Armee auf dem Fuß 
gefolgt wären, würden von der allgemeinen Regierung abhängig oder solche 
Männer gewesen sein, die aus dem Elend ihrer irrenden Mitbürger Nutzen zu 
ziehen trachteten. Die Befugnisse der Stellenvergebung und der Herrschast, 
welche unter dem Präsidenten über weite volkreiche und von der Natur reich- 
begünstigte Strecken ausgcübt worden wären, sind größer, als ich sie, es sei 
denn unter dem Druck der äußersten Nothwendigkeit, einem einzelnen je an- 
vertrauen möchte; sie sind so groß, daß ich mich niemals, außer in dringend- 
sten Nothfällen, dazu verstehen würde, sie auszuüben. Die Willkürausübung 
solcher Befugnisse, durch eine Reihe von Jahren fortgesetzt, würde die Rein- 
heit der allgemeinen Verwaltung und die Freiheit der treugebliebenen Staaten 
gefährden. Ueberdieß würde die Politik der militärischen Beherrschung eines 
eroberten Gebiets die Behauptung in sich enthalten haben, daß die Staaten, 
deren Bewohner an der Empörung theilgenommen, vermöge dieses Actes ihrer 
Bewohner aufgehört hätten zu existiren. Die wahre Theorie aber ist, daß alle 
vorgeblichen Handlungen der Losreißung von Anfang an null und nichtig 
waren. Die Staaten können nicht Verrath begehen, noch auch die einzelnen 
Bürger, die Verrath begangen haben, schirmen; ebenso wenig wie sie mit 
fremden Mächten giltige Verträge abschließen, gesetzlichen Verkehr unterhalten 
können. Die Staaten, welche sich loszureißen versuchten, versetzten sich in 
eine Lage, worin ihre Lebensfähigkeit beeinträchtigt, aber nicht erstickt, ihre 
Junctionen suspendirt, aber nicht zerstört wurden. 
„Wenn jedoch irgendein Einzelstaat seine Pflichten hintansetzt oder zu er- 
füllen verweigert, so ist es um so nöthiger, daß die allgemeine Regierung ihre 
ganze Autorität aufrechthalte, und sobald wie möglich die Ausübung aller 
ihrer Functionen in die Hand nehme. Nach diesem Grundsatz habe ich ge- 
handelt, und so allmählig und still und in fast unmerklichen Abstufungen 
die rechtmäßige Thatkraft der allgemeinen Regierung und der Einzelstaaten