Full text: Europäischer Geschichtskalender. Sechster Jahrgang. 1865. (6)

Uedersicht der Ertignise des Jahres 1865. 409 
halten bemüht ist, in dem Wahne, daß die sog. alten Parteien noch tu 
zu seinen Lebzeiten so gut wie aussterben würden und daß die un- 
bedingte Aufrechthaltung des disherigen Systems absolut nothwendig 
sei, un seine Dynastie zu gründen, ist gerabezu unbegreiflich. Es 
ist dieß ein Schatten, dem er nachjagt und den er menschlicher Wahr- 
scheinlichkeit nach nicht erreichen wird. Sein Regziment in Frank- 
reich beruht doch ganz auf seiner eminenten Persönlichkeit: auch nach 
seinem Tode wird das System nicht alsbald auseinanderfallen, da 
die Gewalt der Dinge die persönlichen Anhänger des Kaisers und 
die Partei der Negierung zwingen wird, zusammenzuhalten; aber 
wenn der kaiserliche Prinz nur der Erbe des Bluts, nicht auch der 
Geistes= und E harakterkraft seines Vaters ist — was allerdings möglich, 
aber erfahrungsgemäß keineswegs wahrscheinlich ist — so wird er sich ent- 
weder auf dem Throne gar nicht halten können oder er wird der von 
allen Seiten anstürmenden öffentlichen Meinung Concessionen machen 
müssen, die nach der Meinung Vieler mit der bonapartischen Re- 
gierung und einer bonapartischen Dynastie gar nicht vereinbar sind. 
Auuch in JItalien beschäftigte sich die öffentliche Meinung zu Jualien. 
Anfang des Jahres lebhaft mit der Cncyclica und dem Syllabus 
des Papstes und da dieselben zunächst gegen Italien und gegen Frank- 
reich gerichtet waren, so glaubte man zahlreiche und hartnäckige Con- 
flicte zwischen der Staatsgewalt und ciner Reihe italienischer Bischöfe 
voraussehen zu müssen. Es war jedoch nicht der Fall. Die Re- 
gierung war so klug, den päpstlichen Erlaß als eine bloße Meinungs- 
äußerung aufzufassen, dem die Curic außer Stande sei practische Geltung 
zu verschaffen und gestattete daher unter allem Vorbehalt der Rechte 
des Staates den Bischöfen deren Verkündigung, so daß jeder Con- 
flict unterblieb. Das Parlament saß damals noch in Turin, die 
Regierung war jedoch bereits im Umzuge nach Florenz begriffen. 
Der König selbst gedachte noch längere Zeit in Turin zu verweilen, 
als die Bevölkerung der bisherigen Hauptstadt ihn zwang, den Schritt, 
so schwer er ihm überhaupt fiel, sofort zu thun. Die Turiner groll- 
ten seit den Septemberereignissen mit der Regierung, obwohl sie sich 
äußerlich ruhig verhielten. Gegen Ende Januars erfolgten aber all- 
abendlich wieder Unordnungen und Excesse von Seite des Pöbels, 
denen die höheren Klassen keinerlei Widerstand entgegensetzten, die 
sie im Geheimen vielmehr geradezu zu begünstigen und zu schüren