Full text: Europäischer Geschichtskalender. Achter Jahrgang. 1867. (8)

          Preußen und der norddeutsche Bund.      123 
6.— 14. Juni. (Preußen). Der König besucht in Begleitung des 
Grafen Bismarck den Kaiser Napoleon und die Pariser Weltausstellung. 
6. Juni. (Preußen). Der erste Civil-Senat des Obertribunals als 
 
 
Disciplinargerichtshof hebt, auf Berufung des Ober-Staatsanwalts, 
den auf Grund des Art. 84 der Verfassung freisprechenden Beschluß 
des Disciplinargerichtes erster Instanz wegen einer vom Abgeordneten 
Stadtgerichtsrath Twesten im Abg.-Hause gemachten Aeußerung auf, 
verweist die Sache zur nähern thatsächlichen Prüfung an das Dis- 
ciplinargericht erster Instanz zurück und stellt dabei als Rechts- 
grundsatz auf: „Ein Landtagsmitglied kann wegen der im betreffenden 
Hause geäußerten Verläumdung nicht bloß strafrechtlich, sondern auch 
disciplinarisch verfolgt werden.“ 
11. „ (Waldeck). Landtag: Die Regierung legt demselben die Ver- 
fassung des norddeutschen Bundes und in geheimer Sitzung auch den 
Entwurf eines mit Preußen abzuschließenden „Accessionsvertrags" vor. 
18, „ (Preußen). Die national-liberale Partei erläßt ein von den 
hervorragendsten Mitgliedern derselben aus den neuen wie aus den 
alten Provinzen unterzeichnetes Programm: 
„ . Uns beseelt und vereinigt der Gedanke, daß die nationale Einheit 
nicht ohne die volle Befriedigung der liberalen Ansprüche des Volkes erreicht 
und dauernd erhalten, und daß ohne die thatkräftige und treibende Macht 
der nationalen Einheit der Freiheitssinn des Volkes nicht befriedigt werden 
kann. Deßhalb ist unser Wahlspruch: Der deutsche Staat und die deutsche 
Freiheit müssen gleichzeitig und mit denselben Mitteln errungen werden. 
Die Einigung des ganzen Deutschlands unter einer und derselben Verfassung 
ist uns die höchste Aufgabe der Gegenwart. Einen monarchischen Bundes- 
staat mit den Bedingungen des constitutionellen Rechtes in Einklang zu 
bringen, ist eine schwere Aufgabe; die Verfassung des norddeutschen Bundes 
hat sie weder vollständig im Umfange, noch in endgültig befriedigender Weise 
gelöst. Aber wir betrachten das neue Werk als den ersten unentbehrlichen 
Schritt auf der Bahn zu dem in Freiheit und Macht gefestigten deutschen 
Staate. Der Beitritt Süddeutschlands, welchen die Verfassung offen hält, 
muß mit allen Kräften und dringlich befördert werden, aber unter keinen 
Umständen darf er die einheitliche Centralgewalt in Frage stellen oder schwächen. 
Wie unsere Partei im Entstehen zu bessern bemüht war, so wird sie ununter- 
brochen und schon im nächsten Reichstage darauf hinarbeiten, die Verfassung 
in sich auszubauen. Im Parlament erblicken wir die Vereinigung der lebendig 
wirkenden Kräste der Nation. Das allgemeine, gleiche, directe und geheime 
Wahlrecht ist unter unserer Mitwirkung zur Grundlage des öffentlichen 
Lebens gemacht. Wir verhehlen uns nicht die Gefahren, welche es mit sich 
bringt, so lange Preßfreiheit, Versammlungs= und Vereinsrecht polizeilich 
verkümmert sind, die Volksschule unter lähmenden Regulativen steht, die 
Wahlen bureaukratischen Einwirkungen unterworfen sind, zumal da die Ver- 
sagung der Diäten die Wählbarkeit beschränkt. Aber da die Garantien nicht 
zu erreichen waren, haben die Gefahren uns nicht abgeschreckt. Wir sind 
entschlossen, die Bundescompetenz zu befestigen und über alle gemeinsamen 
Angelegenheiten auszudehnen. Als Ziel schwebt uns vor, daß die parlamen- 
tarischen Funktionen des Staates möglichst vollständig in den Reichstag ver- 
legt werden. Nach dem Beispiele der preußischen Verfassung haben die 
entsprechenden Unvollkommenheiten in die Reichsverfassung Eingang gefunden.
	        
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