Preußen und der norddeutsche Bund. 123
6.— 14. Juni. (Preußen). Der König besucht in Begleitung des
Grafen Bismarck den Kaiser Napoleon und die Pariser Weltausstellung.
6. Juni. (Preußen). Der erste Civil-Senat des Obertribunals als
Disciplinargerichtshof hebt, auf Berufung des Ober-Staatsanwalts,
den auf Grund des Art. 84 der Verfassung freisprechenden Beschluß
des Disciplinargerichtes erster Instanz wegen einer vom Abgeordneten
Stadtgerichtsrath Twesten im Abg.-Hause gemachten Aeußerung auf,
verweist die Sache zur nähern thatsächlichen Prüfung an das Dis-
ciplinargericht erster Instanz zurück und stellt dabei als Rechts-
grundsatz auf: „Ein Landtagsmitglied kann wegen der im betreffenden
Hause geäußerten Verläumdung nicht bloß strafrechtlich, sondern auch
disciplinarisch verfolgt werden.“
11. „ (Waldeck). Landtag: Die Regierung legt demselben die Ver-
fassung des norddeutschen Bundes und in geheimer Sitzung auch den
Entwurf eines mit Preußen abzuschließenden „Accessionsvertrags" vor.
18, „ (Preußen). Die national-liberale Partei erläßt ein von den
hervorragendsten Mitgliedern derselben aus den neuen wie aus den
alten Provinzen unterzeichnetes Programm:
„ . Uns beseelt und vereinigt der Gedanke, daß die nationale Einheit
nicht ohne die volle Befriedigung der liberalen Ansprüche des Volkes erreicht
und dauernd erhalten, und daß ohne die thatkräftige und treibende Macht
der nationalen Einheit der Freiheitssinn des Volkes nicht befriedigt werden
kann. Deßhalb ist unser Wahlspruch: Der deutsche Staat und die deutsche
Freiheit müssen gleichzeitig und mit denselben Mitteln errungen werden.
Die Einigung des ganzen Deutschlands unter einer und derselben Verfassung
ist uns die höchste Aufgabe der Gegenwart. Einen monarchischen Bundes-
staat mit den Bedingungen des constitutionellen Rechtes in Einklang zu
bringen, ist eine schwere Aufgabe; die Verfassung des norddeutschen Bundes
hat sie weder vollständig im Umfange, noch in endgültig befriedigender Weise
gelöst. Aber wir betrachten das neue Werk als den ersten unentbehrlichen
Schritt auf der Bahn zu dem in Freiheit und Macht gefestigten deutschen
Staate. Der Beitritt Süddeutschlands, welchen die Verfassung offen hält,
muß mit allen Kräften und dringlich befördert werden, aber unter keinen
Umständen darf er die einheitliche Centralgewalt in Frage stellen oder schwächen.
Wie unsere Partei im Entstehen zu bessern bemüht war, so wird sie ununter-
brochen und schon im nächsten Reichstage darauf hinarbeiten, die Verfassung
in sich auszubauen. Im Parlament erblicken wir die Vereinigung der lebendig
wirkenden Kräste der Nation. Das allgemeine, gleiche, directe und geheime
Wahlrecht ist unter unserer Mitwirkung zur Grundlage des öffentlichen
Lebens gemacht. Wir verhehlen uns nicht die Gefahren, welche es mit sich
bringt, so lange Preßfreiheit, Versammlungs= und Vereinsrecht polizeilich
verkümmert sind, die Volksschule unter lähmenden Regulativen steht, die
Wahlen bureaukratischen Einwirkungen unterworfen sind, zumal da die Ver-
sagung der Diäten die Wählbarkeit beschränkt. Aber da die Garantien nicht
zu erreichen waren, haben die Gefahren uns nicht abgeschreckt. Wir sind
entschlossen, die Bundescompetenz zu befestigen und über alle gemeinsamen
Angelegenheiten auszudehnen. Als Ziel schwebt uns vor, daß die parlamen-
tarischen Funktionen des Staates möglichst vollständig in den Reichstag ver-
legt werden. Nach dem Beispiele der preußischen Verfassung haben die
entsprechenden Unvollkommenheiten in die Reichsverfassung Eingang gefunden.