90 Preußen und der norddeutsche Bund.
dieselben Beleidigungen, die, wenn ein ehrbarer Handwerksmeister sie gegen
einen anderen ausspricht, eine schwere Strafe, wenn er sie öffentlich ausspricht
und vor Zeugen, Gefängniß= oder eine höhere Geldstrafe nach sich ziehen
können, dem preußischen Minister-Präsidenten gegenüber angewandt, durch-
schnittlich 10 Thaler kosteten. Für 10 Thaler hatte Jeder die Freiheit, mir
die schmachvollsten Injurien öffentlich zu sagen oder drucken zu lassen, die er
wollte. (Lebhafter Widerspruch.) Daß die Urtheile mit einem Maßstabe gemessen
waren, welcher von politischer Beeinflussung ganz frei gewesen wäre, den
Eindruck habe ich nicht gehabt. Es wurde aber noch dadurch verstärkt, daß
ich in einzelnen dieser Erkenntnisse die richterliche Motivirung las: „es lägen
noch mildernde Umstände vor, denn dieses Ministerium tauge wirklich nichts"“.
(Große, andauernde Heiterkeit.) Nun frage ich, kann mit solchen Raison-
nements bei einem erkennenden Richter der Eindruck von Würde, von An-
sehen, von Unparteilichkeit auf die Dauer aufrecht erhalten werden, dessen die
richterliche Stellung bedarf? Die Herren werden aus meiner Darlegung ent-
nommen haben, daß die Aufrechterhaltung des Artikels, wie er dasteht, für
mich gerade nicht, wenn ich so sagen soll, eine Cabinetsfrage ist; daß ich
mich aber freuen würde, wenn der Reichstag eine oder die andere der An-
sichten, die ich hier aus eigener Erfahrung ausgesprochen habe, durch seinen
Beschluß bestätigte, indem entweder die geistlichen und richterlichen Beamten
ausgeschlossen würden, oder, was mir noch lieber wäre, dasjenige Amendement,
welches den Zwangsurlaub auch hier einführen will, abgelehnt würde.“
Bei der Abstimmung wird der Antrag Zachariä (Oberhaus) mit
großer Mehrheit abgelehnt, dagegen der Antrag Fries (geheime Ab-
stimmung) mit großer Mehrheit (darunter auch Mitglieder der
Rechten wie die Generale Moltke und Falkenstein und die meisten
Mitglieder der freien conservativen Vereinigung) angenommen und
ebenso der Antrag des Grafen Henkel von Donnersmarck (gegen
Beamtenausschluß).
28. März. (Reuß ä. L.) Ende der Regentschaft der Fürstin Caroline,
ihr Sohn Fürst Heinrich XXII. übernimmt nunmehr selbst die Re—
gierung und ertheilt seinem Ländchen eine Verfassung.
29. „ (Norddeutscher Bund). Reichstag: Verfassungsdebatte. Art. 22
(Verhandlungen des Reichstags). Discussion über die Frage wahr-
heitsgetreuer Berichte.
Antrag Lasker: „Wahrheitsgetreue Berichte über Verhandlungen in
den öffentlichen Sitzungen des Reichstags bleiben von jeder Verantwortlich-
keit frei“
Rede Bismarcks: „Die verbündeten Regierungen befürchten von der
Freiheit der Verössentlichung der Parlamentsreden keine Gefahr. Wir haben
gesehen, daß Reden aus dem preußischen Abgeordnetenhause, wie sie wohl
stärker in keiner Versammlung dieser Art gehalten waren, veröffentlicht
wurden ohne jegliche Gefahr. Die Gründe, die uns veranlaßt haben und
mich bei einer andern Gelegenheit persönlich —, einer solchen gesetzlichen Be-
stimmung, wie sie hier von jener Seite (links) befürwortet wird, zu wider-
sprechen, sind andere; ich kann sie wohl bezeichnen als Gründe der Sittlich-
keit. Es gibt viele Dinge, die ein Staat dulden kann — er kann sie
ignoriren; aber etwas Anderes ist es, sie gesetzlich zu sanctioniren. Dazu
rechne ich auch das Recht, einen andern Mitbürger zu beleidigen, ohne daß
dieser irgend eine Genugthuung dafür finden könnte. Ich will von Ver-
brechen, die man mit Worten begehen kann, nicht reden; ich rechne gar nicht
darauf, daß sie an der Stelle begangen werden würden. Ich will nur reden