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Gesterreich-Angarn.
folg, jene Ziele anzustreben wären, in deren Nothwendigkeit die Schwierigkeiten
der gegenwärtigen Situation wurzeln. Schon aus dem, was wir über das
Programm der Majorität des Ministeriums zu bemerken uns ehrfurchtsvollst
erlaubten, geht hervor, daß wir die Lage des Reiches, wie sie sich in der Un-
fertigkeit der verfassungsmäßigen Zustände seiner Westhälfte, in der stets zu
größerer Leidenschaftlichkeit anwachsenden nationalen Opposition und bei der
Unzuverlässigkeit dauernder friedlicher äußerer Verhältnisse darstellt, als eine
bedenkliche betrachten müssen. Wir sind nicht der Meinung, daß nach den
jüngsten Vorgängen selbst eine absolute Stabilität, also auch der Verzicht auf
die Wahlreform, es möglich machen würde, den bisherigen Weg „mit Geduld
und Ausdauer weiter zu wandeln". Wir glauben aber auch andererseits dar-
gethan zu haben, daß die ohne Bewerkstelligung eines Verständnisses mit der
nationalen Opposition isolirt durchgeführte Wahlreform diese Opposition nicht
beugen, sondern kräftigen, den Reichsrath nicht stärken, sondern seiner allmäh-
ligen Selbstauflösung entgegenführen würde. Wir halten die absolute Herr-
schaft der Verfassungspartei über die gesammte nationale Opposition für durch-
aus unausführbar; gerade die verfassungsmäßigen Freihditen, deren sich auch
die Opposition erfreut, werden nothwendig zur Entziehung derselben, zum
Ausnahmszustande und letztlich zur offenen Auflehnung führen. Es kann
endlich nicht unbeachtet bleiben, daß die Discussion der Verfassungsfrage schon
durch die Resulution des galizischen Landtags unvermeidlich geworden ist.
Und wenn auch die Majorität des Ministeriums nur von einigen, die Ver-
fassung selbst nicht berührenden administrativen Zugeständnissen wissen will, so
wird gerade dieser letztere Umstand die Discussion nur um so lebhafter und
um so leidenschaftlicher gestalten, je mehr die galizischen Abgeordneten von
den allzuweit gehenden gefährlichen Forderungen der Resolution ablassen, da-
gegen aber mit bloß administrativen Zugeständnissen sich voraussichtlich nicht
begnügen würden.
„Angesichts dieser Perspective halten es die ehrfurchtsvollst Unterzeichneten
für ihre patriotische Pflicht, auszusprechen, daß die Herbeiführung einer Ver-
ständigung mit der gesammten nationalen Opposition und die
Heranziehung dieser letzteren zu gemeinsamer verfassungsmäßiger Wirksamkeit
als die dringendste Angelegenheit der Regierung Eurer Maj. anzusehen und
zu behandeln sein dürfte. Auch die unterzeichnete treugehorsamste Minorität
stimmt mit der Majorität darin überein, daß eine Aenderung der Wahlgesetze
bezüglich der Abgeordneten in den Reichsrath sehr wünschenswerth erscheine.
Die ehrfurchtsvollst unterzeichnete Minorität ist aber aus den umständlich dar-
gelegten Gründen der Meinung, daß die gehofften wohlthätigen Folgen der
Wahlreform nur dann zu erwarten sind, wenn mit ihr zugleich jene Aende-
rungen des Grundgesetzes über die Reichsvertretung zu Stande kommen, welche
der nationalen Opposition nach ihren Anschauungen die Betheiligung an der
gemeinsamen verfassungsmäßigen Wirksamkeit möglich machen. Die ehrfurchts-
vollst Unterzeichneten sind aber auch weit entfernt davon, zur Herbeiführung
des Verständnisses mit der nationalen Opposition einen anderen als den lega-
len, den streng verfassungsmäßigen Weg zu empfehlen. Noch weit mehr als
bei der Wahlreform, bezüglich deren die Competenz der Landtage nicht igno-
rirt werden kann und darf, fallen alle Aenderungen an der Reichsverfassung,
insbesondere an dem hier zunächst in Betracht kommenden Grundgesetze über
die Reichsvertretung, in die ausschließliche und volle Competenz des Reichs-
rathes. Ja die ehrfurchtsvollst Unterzeichneten möchten, belehrt durch die un-
angenehme Erfahrung, welche die Regierung mit der Befragung der 17 Land-
tage über die Wahlreform machte, auch nicht einmal eine bloße gutachtliche
Befragung der Landtage im Sinne der Landesordnungen bevorworten. Nur
indem der Reichsrath es ist, der über Aenderungen an der Verfassung ent-
scheidet, wird allen föderalistischen Ausschreitungen, allen Selbständigkeitsgelüsten
einzelner Länder, welche auch wir ablehnen, eine gebieterische Schranke gezogen.