Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

                        Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.                     95 
       Antrag der kath. Fraction: „Der Reichstag wolle beschließen, in die 
Verfassung des Deutschen Reichs hinter Artikel 1 die nachfolgenden Zusatzbe- 
stimmungen aufzunehmen und demgemäß die Nummern der weiteren Artikel 
abzuändern. „II. Grundrechte. Artikel 2. Jeder Deutsche hat das Recht, 
durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu 
äußern. Die Censur darf nicht eingeführt werden; jede andere Beschränkung 
der Preßfreiheit nur im Wege der Gesetzgebung. Artikel 3. Vergehen, welche 
durch Wort, Schrift, Druck oder bildliche Darstellung begangen werden, sind 
nach den allgemeinen Strafgesetzen zu bestrafen. Artikel 4. Alle Deutschen sind 
berechtigt, sich ohne vorgängige obrigkeitliche Erlaubniß friedlich und ohne Waffen 
in geschlossenen Räumen zu versammeln. Diese Bestimmung bezieht sich nicht 
auf Versammlungen unter freiem Himmel, welche auch in Bezug auf vorgän- 
gige obrigkeitliche Erlaubniß der Verfügung des Gesetzes unterworfen sind. 
Artikel 5. Alle Deutschen haben das Recht, sich zu solchen Zwecken, welche den 
Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen, in Gesellschaften zu vereinigen. Das Gesetz 
regelt, insbesondere zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, die Aus- 
übung des in diesem und dem vorstehenden Artikel (4) gewährleisteten Rechts. 
Politische Vereine können Beschränkungen und vorübergehenden Verboten im 
Wege der Gesetzgebung unterworfen werden. Art. 6. Die Freiheit des reli- 
giösen Bekenntnisses, der Vereinigung der Religions-Gesellschaften und der ge- 
meinsamen häuslichen und öffentlichen Religionsübung wird gewährleistet. 
Der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte ist unabhängig von 
dem Religionsbekenntnisse. Den bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten 
darf durch die Ausübung der Religionsfreiheit kein Abbruch geschehen. Ar- 
tikel 7. Die evangelische und die römisch-katholische Kirche, sowie jede andere 
Religions-Gesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig 
und bleibt im Besitz und Genuß der für ihre Cultus, Unterrichts- und Wohl- 
thätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds.“ Die Motive: 
„In Folge Uebereinkommens zwischen dem norddeutschen Bunde und den Groß- 
herzogthümern Baden und Hessen sind in Art. 4 Nr. 16 der deutschen Reichs- 
verfassung der Gesetzgebung des Reiches auch die Bestimmungen über die Presse 
und das Vereinswesen zugewiesen worden. Diese hochwichtigen Rechtsmaterien 
haben aber bereits in den meisten Bundesstaaten, insbesondere auch in Preußen, 
unter der Form von Grundrechten verfassungsmäßige, für die Landesgesetz- 
gebung maßgebende Garantieen erhalten, und es kann nicht in der Absicht 
der deutschen Reichsverfassung liegen, diese Garantieen durch bedingungslose 
Ueberweisung der betreffenden Gesetzgebung an das Reich für die Zukunft in 
Frage zu stellen. Es ist daher jetzt geboten, die entsprechenden bewährten Be- 
stimmungen der Artikel 27, 28, 29 und 30 der preußischen Verfassungs- 
Urkunde, sowie die damit in unmittelbarer Verbindung stehenden Bestimmungen 
der Artikel 12 und 15 ibid. in die deutsche Reichsverfassung aufzunehmen, 
damit dieselben nicht bloß als eine Schutzwehr nationaler Sicherheit und Ord- 
nung, sondern auch als eine Bürgschaft nationaler Freiheit dastehe.“ Als 
Zusatz hiezu beantragen Sonnemann, Fischer und Gravenhorst ein 
Amendement, welches die absolute Freiheit der Presse, die Aburtheilung der 
Preßvergehen vor Schwurgerichten, das unbeschränkte Versammlungs- und 
Vereinsrecht im Sinne des 1849er Reichsverfassung verlangt. Graf Renard 
und Gen. (die — freikons. — „deutsche Reichspartei“) beantragen Uebergang 
zur Tagesordnung in der Erwägung, daß dem Reichstage nur der Entwurf 
einer Redaktion vorliege, die beantragten Zusätze aber Gegenstand einer mate- 
riellen Verfassungsrevision seien und somit die formelle Feststellung des Ver- 
fassungsrechtes gefährdeten, daß diese Zusätze ferner in ihrer Allgemeinheit un- 
genügend erschienen, das angestrebte Ziel zu sichern, und daß es dem weiteren 
Ausbau der Verfassung vorbehalten bleibe, eine befriedigende Regelung der 
Beziehungen zwischen Staat und Kirche herbeizuführen. Schulze und Gen. 
(Fortschrittspartei) wollen gleichfalls Uebergang zur Tagesordnung, und
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.