Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 95
Antrag der kath. Fraction: „Der Reichstag wolle beschließen, in die
Verfassung des Deutschen Reichs hinter Artikel 1 die nachfolgenden Zusatzbe-
stimmungen aufzunehmen und demgemäß die Nummern der weiteren Artikel
abzuändern. „II. Grundrechte. Artikel 2. Jeder Deutsche hat das Recht,
durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu
äußern. Die Censur darf nicht eingeführt werden; jede andere Beschränkung
der Preßfreiheit nur im Wege der Gesetzgebung. Artikel 3. Vergehen, welche
durch Wort, Schrift, Druck oder bildliche Darstellung begangen werden, sind
nach den allgemeinen Strafgesetzen zu bestrafen. Artikel 4. Alle Deutschen sind
berechtigt, sich ohne vorgängige obrigkeitliche Erlaubniß friedlich und ohne Waffen
in geschlossenen Räumen zu versammeln. Diese Bestimmung bezieht sich nicht
auf Versammlungen unter freiem Himmel, welche auch in Bezug auf vorgän-
gige obrigkeitliche Erlaubniß der Verfügung des Gesetzes unterworfen sind.
Artikel 5. Alle Deutschen haben das Recht, sich zu solchen Zwecken, welche den
Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen, in Gesellschaften zu vereinigen. Das Gesetz
regelt, insbesondere zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, die Aus-
übung des in diesem und dem vorstehenden Artikel (4) gewährleisteten Rechts.
Politische Vereine können Beschränkungen und vorübergehenden Verboten im
Wege der Gesetzgebung unterworfen werden. Art. 6. Die Freiheit des reli-
giösen Bekenntnisses, der Vereinigung der Religions-Gesellschaften und der ge-
meinsamen häuslichen und öffentlichen Religionsübung wird gewährleistet.
Der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte ist unabhängig von
dem Religionsbekenntnisse. Den bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten
darf durch die Ausübung der Religionsfreiheit kein Abbruch geschehen. Ar-
tikel 7. Die evangelische und die römisch-katholische Kirche, sowie jede andere
Religions-Gesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig
und bleibt im Besitz und Genuß der für ihre Cultus, Unterrichts- und Wohl-
thätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds.“ Die Motive:
„In Folge Uebereinkommens zwischen dem norddeutschen Bunde und den Groß-
herzogthümern Baden und Hessen sind in Art. 4 Nr. 16 der deutschen Reichs-
verfassung der Gesetzgebung des Reiches auch die Bestimmungen über die Presse
und das Vereinswesen zugewiesen worden. Diese hochwichtigen Rechtsmaterien
haben aber bereits in den meisten Bundesstaaten, insbesondere auch in Preußen,
unter der Form von Grundrechten verfassungsmäßige, für die Landesgesetz-
gebung maßgebende Garantieen erhalten, und es kann nicht in der Absicht
der deutschen Reichsverfassung liegen, diese Garantieen durch bedingungslose
Ueberweisung der betreffenden Gesetzgebung an das Reich für die Zukunft in
Frage zu stellen. Es ist daher jetzt geboten, die entsprechenden bewährten Be-
stimmungen der Artikel 27, 28, 29 und 30 der preußischen Verfassungs-
Urkunde, sowie die damit in unmittelbarer Verbindung stehenden Bestimmungen
der Artikel 12 und 15 ibid. in die deutsche Reichsverfassung aufzunehmen,
damit dieselben nicht bloß als eine Schutzwehr nationaler Sicherheit und Ord-
nung, sondern auch als eine Bürgschaft nationaler Freiheit dastehe.“ Als
Zusatz hiezu beantragen Sonnemann, Fischer und Gravenhorst ein
Amendement, welches die absolute Freiheit der Presse, die Aburtheilung der
Preßvergehen vor Schwurgerichten, das unbeschränkte Versammlungs- und
Vereinsrecht im Sinne des 1849er Reichsverfassung verlangt. Graf Renard
und Gen. (die — freikons. — „deutsche Reichspartei“) beantragen Uebergang
zur Tagesordnung in der Erwägung, daß dem Reichstage nur der Entwurf
einer Redaktion vorliege, die beantragten Zusätze aber Gegenstand einer mate-
riellen Verfassungsrevision seien und somit die formelle Feststellung des Ver-
fassungsrechtes gefährdeten, daß diese Zusätze ferner in ihrer Allgemeinheit un-
genügend erschienen, das angestrebte Ziel zu sichern, und daß es dem weiteren
Ausbau der Verfassung vorbehalten bleibe, eine befriedigende Regelung der
Beziehungen zwischen Staat und Kirche herbeizuführen. Schulze und Gen.
(Fortschrittspartei) wollen gleichfalls Uebergang zur Tagesordnung, und