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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.
zwar in der Erwägung, „daß es erst nach redaktioneller Feststellung des gel-
tenden Verfassungsrechtes Aufgabe des Reichstages sein kann, aber auch sein
wird, den Ausbau der Reichsverfassung in freiheitlicher Richtung in Angriff
zu nehmen, und daß die in dem Antrage aufgestellten Grundrechte in ihrer
Unvollständigkeit weder dem Rechtsbewußtsein noch den Bedürfnissen des deut-
schen Volkes entsprechen."
In der Debatte beantragen zunächst die Polen zu Artikel 1 den Aus-
schluß der polnischen Landestheile aus dem Reiche. Fürst Bismark tritt dem
Antrage sehr scharf entgegen und der Antrag wird mit allen gegen die Stim-
men der Polen und der beiden socialistischen Abgg. Bebel und Schreps ab-
gelehnt. Dann gelangt die Frage der Grundrechte und der Antrag der kath.
Fraction zur Behandlung. Reichensperger (Olpe): Die Ruhe darf nur
der Lohn reichlich gethaner Arbeit sein. Wir haben viel gethan seit 1866,
aber nur für die Einheit; es ist Zeit, jetzt an die freiheitlichen Forderungen
des Volkes zu denken. Wir dürfen uns keiner Vertrauensseligkeit überlassen,
wo es sich um constitutionelle Rechte handelt. Eine mehr als zwanzigjährige
Erfahrung sollte uns gegen übergroßes Vertrauen mißtrauisch machen und uns
lehren, welcher Schutz in dem niedergeschriebenen Rechte liegt. Der Reichstag
hat selbst im vergangenen Dezember bei Gelegenheit des Duncker'schen Antrags
bezüglich der Maßregeln Vogel von Falkensteins den Mangel der Grundrechte
schmerzlich zu fühlen gehabt. Wir machen hier auch keine Experimente, wir
wollen nur Grundsätze in die Verfassung aufgenommen wissen, die schon durch
eine zwanzigjährige Erfahrung erprobt sind. v. Treitschke: Wir neu ein-
getretenen Mitglieder sind schmerzlich enttäuscht. Wir waren auf solche De-
batten, wie vorgestern und heute, nicht gefaßt; wir hofften, der Geist der Ein-
tracht werde auch in dieser Versammlung lebendig sein. Statt dessen sahen
wir vorgestern den Auszug auf den heiligen Berg Seitens eines Theiles der
Volksvertreter; wir hören heute das Papst- und das Polenthum, die Republik
und das Welfenthum das neue Deutschland anfeinden. Der Reichensperger'sche
Antrag gemahnt allzusehr an die Vorgänge des Jahres 48, da wir noch in
politischen Kinderschuhen gingen. Man wollte damals den Jahrhunderte alten
Gegensatz zwischen Staat und Kirche durch vier Zeilen ausgleichen, heute wie-
derholt man diesen fruchtlosen Versuch. Was die Herren wollen, ist eine un-
vollständige Auslese aus der preußischen Verfassung; mehr noch bot die Frank-
furter Verfassung. Wo ist der Artikel aus der preußischen Verfassung: Die
Wissenschaft und ihre Lehre ist frei! (Stürmischer Beifall.) Wo ist der Satz,
der die Civilehe statuirt? (Bravo.) Die eine große positive Wahrheit, welche
die Herren im Jahre des Heils 1871 aufstellten, ist der geistreiche Satz, daß
die Censur in Deutschland nicht mehr eingeführt werden soll. (Heiterkeit.) Der
Kern des Antrages ist die Bestimmung, daß die katholische Kirche ihre Ange-
legenheiten selbst verwaltet. Ich sehe keine Gefahr in der Freiheit der katho-
lischen Kirche in Preußen, wohl aber in der Unsicherheit des staatskirchlichen
Rechts, das in diesem Lande herrscht. Die controversen Verhältnisse, die es
während der letzten zwanzig Jahre herbeigeführt hat, will ich nicht auf das
übrige Deutschland übertragen. Wenn die katholische Kirche ihre Angelegen-
heiten selbst ordnet, so bietet dies Recht jedem Bischof in einem kleinen Staate
mit katholischer Bevölkerung eine mächtige Handhabe zur Opposition gegen die
Regierung; so schwierige Grenzfragen müssen durch eine geordnete, wohlüber-
legte Gesetzgebung regulirt werden. Zwei Jahrzehnte trüber Erfahrungen
mahnen uns, den confessionellen Hader in Deutschland nicht zu verewigen.
Ich bitte namentlich die Fortschrittspartei: fürchten Sie nicht, daß Ihre de-
mokratischen Wähler Sie desavouiren werden, wenn Sie einen Antrag ab-
weisen, der unter dem Schein der Freisinnigkeit bezweckt, der kathol. Kirche
eine selbständige Stellung zu verschaffen. Blicken Sie nicht in die Vergangen-
heit, blicken Sie in die Zukunft! Bischof v. Ketteler: Der Abg. v. Treitschke
hat Sie gebeten, für keine Gesetze zu stimmen, welche die Bischöfe zu Rebellen