Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

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                       Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
zwar in der Erwägung, „daß es erst nach redaktioneller Feststellung des gel- 
tenden Verfassungsrechtes Aufgabe des Reichstages sein kann, aber auch sein 
wird, den Ausbau der Reichsverfassung in freiheitlicher Richtung in Angriff 
zu nehmen, und daß die in dem Antrage aufgestellten Grundrechte in ihrer 
Unvollständigkeit weder dem Rechtsbewußtsein noch den Bedürfnissen des deut- 
schen Volkes entsprechen." 
       In der Debatte beantragen zunächst die Polen zu Artikel 1 den Aus- 
schluß der polnischen Landestheile aus dem Reiche. Fürst Bismark tritt dem 
Antrage sehr scharf entgegen und der Antrag wird mit allen gegen die Stim- 
men der Polen und der beiden socialistischen Abgg. Bebel und Schreps ab- 
gelehnt. Dann gelangt die Frage der Grundrechte und der Antrag der kath. 
Fraction zur Behandlung. Reichensperger (Olpe): Die Ruhe darf nur 
der Lohn reichlich gethaner Arbeit sein. Wir haben viel gethan seit 1866, 
aber nur für die Einheit; es ist Zeit, jetzt an die freiheitlichen Forderungen 
des Volkes zu denken. Wir dürfen uns keiner Vertrauensseligkeit überlassen, 
wo es sich um constitutionelle Rechte handelt. Eine mehr als zwanzigjährige 
Erfahrung sollte uns gegen übergroßes Vertrauen mißtrauisch machen und uns 
lehren, welcher Schutz in dem niedergeschriebenen Rechte liegt. Der Reichstag 
hat selbst im vergangenen Dezember bei Gelegenheit des Duncker'schen Antrags 
bezüglich der Maßregeln Vogel von Falkensteins den Mangel der Grundrechte 
schmerzlich zu fühlen gehabt. Wir machen hier auch keine Experimente, wir 
wollen nur Grundsätze in die Verfassung aufgenommen wissen, die schon durch 
eine zwanzigjährige Erfahrung erprobt sind. v. Treitschke: Wir neu ein- 
getretenen Mitglieder sind schmerzlich enttäuscht. Wir waren auf solche De- 
batten, wie vorgestern und heute, nicht gefaßt; wir hofften, der Geist der Ein- 
tracht werde auch in dieser Versammlung lebendig sein. Statt dessen sahen 
wir vorgestern den Auszug auf den heiligen Berg Seitens eines Theiles der 
Volksvertreter; wir hören heute das Papst- und das Polenthum, die Republik 
und das Welfenthum das neue Deutschland anfeinden. Der Reichensperger'sche 
Antrag gemahnt allzusehr an die Vorgänge des Jahres 48, da wir noch in 
politischen Kinderschuhen gingen. Man wollte damals den Jahrhunderte alten 
Gegensatz zwischen Staat und Kirche durch vier Zeilen ausgleichen, heute wie- 
derholt man diesen fruchtlosen Versuch. Was die Herren wollen, ist eine un- 
vollständige Auslese aus der preußischen Verfassung; mehr noch bot die Frank- 
furter Verfassung. Wo ist der Artikel aus der preußischen Verfassung: Die 
Wissenschaft und ihre Lehre ist frei! (Stürmischer Beifall.) Wo ist der Satz, 
der die Civilehe statuirt? (Bravo.) Die eine große positive Wahrheit, welche 
die Herren im Jahre des Heils 1871 aufstellten, ist der geistreiche Satz, daß 
die Censur in Deutschland nicht mehr eingeführt werden soll. (Heiterkeit.) Der 
Kern des Antrages ist die Bestimmung, daß die katholische Kirche ihre Ange- 
legenheiten selbst verwaltet. Ich sehe keine Gefahr in der Freiheit der katho- 
lischen Kirche in Preußen, wohl aber in der Unsicherheit des staatskirchlichen 
Rechts, das in diesem Lande herrscht. Die controversen Verhältnisse, die es 
während der letzten zwanzig Jahre herbeigeführt hat, will ich nicht auf das 
übrige Deutschland übertragen. Wenn die katholische Kirche ihre Angelegen- 
heiten selbst ordnet, so bietet dies Recht jedem Bischof in einem kleinen Staate 
mit katholischer Bevölkerung eine mächtige Handhabe zur Opposition gegen die 
Regierung; so schwierige Grenzfragen müssen durch eine geordnete, wohlüber- 
legte Gesetzgebung regulirt werden. Zwei Jahrzehnte trüber Erfahrungen 
mahnen uns, den confessionellen Hader in Deutschland nicht zu verewigen. 
Ich bitte namentlich die Fortschrittspartei: fürchten Sie nicht, daß Ihre de- 
mokratischen Wähler Sie desavouiren werden, wenn Sie einen Antrag ab- 
weisen, der unter dem Schein der Freisinnigkeit bezweckt, der kathol. Kirche 
eine selbständige Stellung zu verschaffen. Blicken Sie nicht in die Vergangen- 
heit, blicken Sie in die Zukunft! Bischof v. Ketteler: Der Abg. v. Treitschke 
hat Sie gebeten, für keine Gesetze zu stimmen, welche die Bischöfe zu Rebellen
	        
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