Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

                      Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.                      97 
gegen die Landesgesetze machen. Ich will Ihnen ein Mittel angeben, diese 
Gefahr zu vermeiden; stimmen Sie nie für Gesetze, welche Rebellen gegen 
Gottes Gesetze sind (Unruhe); dann werden wir nie gegen Landesgesetze re- 
belliren. Ich nehme bei dieser Debatte einen höheren Standpunkt ein, den 
alle theilen müssen, die Gerechtigkeit lieben und üben; ich würde nicht zu Ihnen 
sprechen, wenn ich nicht hoffte, Sie zu diesem Standpunkt der höheren Ge- 
rechtigkeit zu bekehren. Wir sind hier, zu vollenden, was die Waffen begonnen 
haben, aber im Geiste unseres Kaisers und unseres Heeres. Der Kaiser hat 
immer Gott die Ehre gegeben, auch unser Heer war von Gottesfurcht beseelt, 
anders wie das französische. Dieser fromme Geist muß auch Ausdruck finden 
in unserem Verfassungswerke, die Achtung der religiösen Ueberzeugung müssen 
wir garantiren und die religiösen Kämpfe von dem politischen Boden aus- 
schließen. Unser Antrag ist die magna charta des Religionsfriedens in 
Deutschland. Für die Religionsgenossenschaften fordern wir freiheitliche Be- 
wegung und Selbstverwaltung. Die Ansichten Treitschke's sind kein Fortschritt, 
sondern ein Rückschritt zu alten Verhältnissen. Wollen Sie die Freiheit von 
oben herab, von den Consistorien, oder durch das Volk! Wenn Treitschke sagt, 
der Artikel 15 hätte in Preußen zu unzähligen Streitigkeiten geführt, so ist 
das nicht wahr; die religiösen Zwiste in diesem Lande haben aufgehört (Wi- 
derspruch). Der Artikel 15 hat in Preußen den religiösen Frieden garantirt; 
deshalb wollen wir ihn auf Deutschland übertragen und dadurch bodenlose 
Zerwürfnisse vermeiden. Schließlich noch Eins! Diese Debatte wird mit un- 
endlicher Aufmerksamkeit im Elsaß verfolgt werden; verletzen Sie nicht die 
religiösen Gefühle des Elsaß! (Heftiger Lärm.) v. Rabenau: Sie selbst 
verletzen sie! Ich werde es Ihnen nachweisen. Graf Renard (freicons.): 
Weder Herr v. Ketteler, noch Herr Neichensperger hat uns über den Wider- 
spruch aufgeklärt, der darin liegt, daß sie, deren Partei eben die fast zweitau- 
sendjährige bischöfliche Verfassung der katholischen Kirche zu Gunsten einer ab- 
soluten Gewalt umgestürzt hat, hier liberale Institutionen vertheidigen. (Leb- 
hafter Beifall.) Der überzeugenden Rede Treitschke's habe ich im Grunde 
nichts hinzuzufügen; nur in einer Beziehung blicke ich hoffnungsreicher, als 
er, in die Zukunft; ich glaube an die freie Kirche im freien Staat. Freilich 
erfordert dies Problem eine viel ernstere Prüfung. Wir vermeiden diese jetzt 
hauptsächlich wegen der eben geschlossenen Verträge. Hüten wir uns, den alten 
Hader wieder zu erneuern; hegen und pflegen wir vorläufig, was uns eint. 
In seltener Vertragstreue haben unsere süddeutschen Brüder neben uns ge- 
stritten. Das Wort, das wir ihnen in diesen Verträgen gegeben, müssen wir 
halten, damit der Norden dem Süden ebenbürtig sei an Treue. (Lebhaftes 
Bravo.) Greil (celerical): Unser Antrag enthält keine Competenzerweiterung 
des Reichstags, dem die Verfügung über das Vereinswesen zusteht; deßhalb 
konnte ich ihn unterzeichnen, obgleich ich eine Zeitlang schwankte, da in Bayern 
die Stellung des Staats zur Kirche bereits vertragsmäßig geregelt ist. Bis 
zum letzten Moment habe ich mich dem Eintritt Bayerns in den neuen Staat 
widersetzt; nachdem es jedoch geschehen ist, will ich ehrlich an ihm mitarbeiten. 
Aber wenn wir Erfolg haben wollen, muß der Grundsatz der gegenseitigen 
Achtung der verschiedenen Confessionen festgehalten werden. Vor meiner Wahl 
habe ich, um die Freiheit meiner Wähler nicht zu beeinflussen, kein Programm 
veröffentlicht (große Heiterkeit); nach meiner Wahl habe ich deutlich und klar 
ausgesprochen, daß ich entschieden für die Rechte der katholischen Kirche ein- 
treten werde, aber soviel ich kann, werde ich auch Unrecht gegen andere Con- 
fessionen abwenden. Ich werde nie einen Gegensatz zwischen den verschiedenen 
Confessionen statuiren, nie! nie! nie! (Große Heiterkeit.) Man hat gesagt, der 
bevorstehende Kampf sei ein Kampf des germanischen Geistes gegen die rö- 
mische Herrschaft. (Sehr richtigl) Das hat mir sehr wehe gethan. Denselben 
Satz habe ich schon Dutzendemale in Zeitungen gelesen, und dort ist er dahin 
interpretirt, daß die katbolische Kirche unterdrückt werden müsse (stürmische 
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