98
Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.
Unterbrechung); ich kann Ihnen die Zeitungen beibringen, jetzt habe ich sie
nicht hier. (Gelächter.) Die Feststellung der Religionsgesellschaften ist ein mäch-
tiger Schritt zur Freiheit. Jedesmal, wenn die Kirche unterdrückt wurde,
waren das unausbleibliche Resultat unerträgliche Zustände, wie die des vorigen
Jahrhunderts. Wenn Sie unsern Antrag annehmen, so leisten Sie Deutsch-
land einen doppelten Dienst: Sie helfen ihm zur Einheit und zur Freiheit.
Löwe (Fortschritt): Die Antragsteller haben sich selber den Bezirk ihrer Wirk-
samkeit zu eng bemessen. Vor allen Dingen müssen zwei Gebiete nothwendig
ins Auge gefaßt werden, wenn von einem Reiche der Gerechtigkeit die Rede
sein soll. Das eine Gebiet ist die Schule. Leider ist in der letzten Zeit der
confessionelle Gegensatz sehr gegen den Geist der Verfassung in die Schule hin-
eingetragen worden. Die Antragsteller, welche die Freiheit wahren wollen, haben
gleichwohl eine Verwaltung unterstützt, die sich bestrebt hat, den confessionellen
Unterschied zu verschärfen. Wenn es den Antragstellern ernst war mit dem
Schutze der Freiheit, warum haben sie sich nicht an die Frankfurter Grund-
rechte gewandt, welche den Satz enthalten: „Niemand ist verpflichtet, seine re-
ligiöse Ueberzeugung zu offenbaren"? Aber auch ein zweites Gebiet muß bei
der Auseinandersetzung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche berück-
sichtigt werden. Das ist die Ehegesetzgebung. Warum ist der Satz von der
Civilehe fortgelassen worden? Der Abg. v. Ketteler sagt, der Staat solle keine
Gesetze geben, welche die Menschen zwingen, Rebellen gegen das Gottesgesetz
zu werden. Was ist denn für ihn Gottesgesetz in dem Augenblick, wo die
Infallibilität Gegenstand des Streites innerhalb der katholischen Kirche selber
ist? Das ganze streitige Gebiet muß durch Einen Akt berichtigt werden, nicht
daß zunächst ein Theil und zwar zu Gunsten einer Partei entschieden wird.
Windthorst (clerical): Die Legitimation zu unsern Anträgen liegt in dem
allgemein gestellten Verlangen der Religionsfreiheit für Alle. Sie bewegen sich
allerdings auf sehr knapp zugemessenem Terrain, allein der Rahmen ist durch
die Competenz des Bundes gegeben. Der Vorwurf, daß die kathol. Fraction
die Mühler'sche Verwaltung unterstützt habe, wird am besten dadurch wider-
legt, daß sie in der hannover'schen Schul- und in der hessischen Kirchenfrage
jenes Ministerium bekämpfte. Den Satz: „Die Wissenschaft und ihre Lehre
soll frei sein“ bin ich gerne bereit anzuerkennen. Für die Herren Lasker und
Miquel könnte wohl die Zeit gekommen sein, eine Siesta zu halten, da ja ihr
Geschäft, alle Staaten Norddeutschlands zu nivelliren, abgethan ist; für mich
ist es keineswegs an der Zeit, mich der Errungenschaften zu erfreuen. Wenn
man uns entgegenhält, daß nichts Zwingendes vorliege, gerade jetzt mit diesen
Forderungen hervorzutreten, antworte ich, daß seit geraumer Zeit gewisse
preußische Staatsmänner in Bezug auf religiöse Parität sehr reaktionäre
Stimmungen offenbaren, und erinnere an die letzten Reskripte des preußischen
Cultusministeriums. Aehnliche Grundsätze wurden auf der Tribüne und bei
Wahlagitationen ausgesprochen. Den Cardinalpunkt jedoch hat Treitschke be-
rührt, nach dessen Ansicht der Staat alleinige Quelle des Rechts ist. Das ist
er keineswegs, vielmehr nur Schutz des bestehenden Rechts. Diese staatliche
Omnipotenz führt folgerecht durchgeführt zum Kommunismus. v. Blancken-
burg (kons.): Den Vorwurf der Nichtberücksichtigung der Interessen unserer
katholischen Mitbürger lehne ich im Namen meiner Partei entschieden ab.
Vermeiden Sie den bösen Schein, als sollten gerade jetzt in diesem ersten
deutschen Reichstage die alten religiösen Kämpfe wieder erweckt werden, nachdem
sie so lange bei uns geschwiegen. (Lebhafte Zustimmung.) Sie haben jüngst
beansprucht, daß das neue deutsche Reich in Italien für die weltliche Herrschaft
des Papstes interveniren solle. Heute stellen Sie den Grundsatz auf, daß die
Kirche vollständig frei sein soll in ihren inneren Angelegenheiten. Ist denn
die Stellung des Papstes keine innere Angelegenheit Ihrer Kirche? Halten
Sie ihn für eine auswärtige Macht, wie kommt dann Ihre Fraktion zu dem
Antrage, daß wir für diese auswärtige Macht interveniren sollen? (Beifall.)