Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

                Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.                             99 
M. Barth (Bayern) gibt im Namen der liberalen Reichspartei die Erklärung 
ab, daß diese Partei keiner der beiden motivirten Tagesordnungen zustimme, 
sondern einfache Ablehnung beantragte, und fährt dann fort: Es will mir 
scheinen, als ob die Herren vom Centrum durch ihre eigenen Anträge in Con- 
flikt kämen mit Dem, was der unfehlbare Papst als nicht mit Gottes Geboten 
in Uebereinstimmung stehend erklärt hat. Die Herren verlangen unbedingte, 
volle Preßfreiheit. Ich habe nun noch keinen päpstlichen Erlaß gelesen, worin 
die Päpste sich für die Preßfreiheit ausgesprochen hätten (sehr wahr!); wohl 
aber habe ich sehr viele Erlasse gelesen, worin die Päpste die Preßfreiheit als 
ein Werk des Teufels erklärt haben. (Sehr gut! Lebhafter Beifall.) Kiefer 
(Baden. Nat.-Lib.): Man habe den Grundsatz der Parität der Confessionen 
hervorgehoben. Wie? Habe denn nicht die römische Kirche, habe denn nicht 
der Papst bis in die neueste Zeit hinein, noch in den jüngsten Kundgebungen 
des Syllabus und der Enciklika die Parität verdammt ? (Lebh. Zustimmung.) 
v. Mallinckrodt (clerical): Gegen die Herren aus Baden ist schwer aufzu- 
kommen. Sie kämpfen nicht nur mit grobem Geschütz, sie kämpfen auch mit 
Mitrailleusen (große Heiterkeit). Der Vorredner behauptet, unser kirchliches 
Oberhaupt habe die Parität der Confessionen verdammt. Ich sage: Nein und 
erwarte den Beweis der Behauptung. Herr v. Blanckenburg behauptet, die 
Geistlichen seiner Confession hätten sich nicht an der Wahlagitation betheiligt; 
sie hatten es auch nicht nöthig. Bei uns hieß es: Feinde ringsum! Da dürfen 
Sie sich nicht wundern, wenn wir uns unserer Haut wehrten. (Unruhe.) Daß 
die Depossedirung des Papstes eine innere Angelegenheit der Katholiken sei, 
bestreite ich; sie ist eine allgemeine Frage der Rechtssolidarität in Europa. 
Wenn Deutschland jetzt wieder groß geworden ist, so danken Sie es der Ge- 
wissensfreiheit, die im Frieden von Osnabrück statuirt wurde. Unterminiren 
wir den Boden, auf dem wir jetzt stehen, nicht wieder. Nehmen wir, was der 
Einheit am Nächsten steht, die Freiheit und nochmals die Freiheit, die ehrliche 
Anerkennung des gegnerischen Rechtes! (Bravo im Centrum.) zur Rabenau 
(freikons.) beschuldigt auf Grund eines von mehreren Mainzer Domkapitularen 
unterzeichneten Wahlaufrufs den Bischof Ketteler, im Elsaß religiöse Beun- 
ruhigung verursacht zu haben. Bebel (sociald.): Das neue Reich scheint 
sich durch religiöse Streitigkeiten inauguriren zu wollen. Zwei lange Sitzungen 
hindurch beschäftigen Sie sich mit religiösen Dingen, und einen Mann, der 
glücklicherweise mit allen religiösen Dogmen gebrochen hat, kostet es große 
Selbstüberwindung, hier auszuharren (Gelächter). Als der König von Preußen 
vor 8 Monaten in den Krieg zog, versprach er dem Volke die Freiheit; an 
dies Versprechen hätte ihn der Reichstag jetzt erinnern sollen, statt sich mit 
solchen Debatten abzuquälen. Indeß nicht nur die Herren auf der Rechten, 
auch die auf der Linken sagen: es ist nicht opportun. Angesichts der That- 
sache, daß die Regierung selbst eine Verfassungsänderung vorgenommen hat, 
klingt diese Entschuldigung eigenthümlich. Aber die Sache läßt sich erklären. 
Treitschke hat Recht, die Männer von 48 waren politische Kinder, als sie in 
eine Verfassung, an deren Spitze ein preußischer König als deutscher Kaiser 
stehen sollte, absolute Preßfreiheit, das weiteste Vereinsrecht und sonstige schöne 
Dinge aufnahmen. Das von einem Fürsten zu erwarten, war kindisch; die 
Interessen der Fürsten und der Völker sind stets entgegengesetzte. (Unruhe.) 
In der That, über Grundrechte zu debattiren, ist ziemlich überflüssig, wenn 
man nicht entschlossen ist, im Nothfall zur Gewalt zu greifen. Wir werden 
sie nicht eher haben, bis Deutschland sagt: Wenn Ihr sie uns nicht gebt, 
nehmen wir sie uns! und Das wollen die Herren von der Fortschrittspartei 
nicht. Die Herren haben noch einen anderen Grund, die Angst vor der euro- 
päischen Revolutionspartei, der ich angehöre. Diese Angst treibt sie den 
reaktionärsten Regierungen in die Arme. Im Anfange der Sechziger-Jahre 
fragte Jemand Bismarck, ob er in dem Conflikt zu siegen gedenke, und da 
soll ihm der Minister geantwortet haben: Ah bah, mehr, als der Fortschritt 
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