Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

                       Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.                          101 
zuverstehenden Satz erst recht verschärft werden. Vor Allem droht die ärgste 
Verwirrung durch die Collision der Grundrechte mit den bezüglichen Be- 
stimmungen der einzelnen Landesverfassungen. (Redner weist Dieß des Näheren 
an den bayrischen Rechtsverhältnissen nach und sagt u. A.:) Art. 6 setzt fest, 
daß die katholische Kirche ihre eigenen Angelegenheiten verwaltet. Ist damit 
das placetum regium aufgehoben? Diese Frage würde zu den weitgreifendsten 
Streitigkeiten führen, die von doppelter Wichtigkeit wären in diesem Augenblick, 
in dem ein großer Theil der bayrischen Katholiken an dem placetum regium 
seine Stütze findet und es nicht entbehren kann, um einen Boden für seine 
rechtliche Existenz zu gewinnen und zu behaupten. (Lebhafter Beifall.) Weiter 
— wer soll die Ausführungsgesetze zu dem Art. 6 erlassen? Abg. Windt- 
horst hat daraus, daß das Vereinswesen dem Reiche untersteht, gefolgert, daß 
auch die gesammte Cultusgesetzgebung von Reichswegen geregelt werden müsse. 
Mit demselben Recht könnte er sagen, daß die Gemeindegesetzgebung dem Reiche 
unterstehen müsse. Der Abg. Probst hat von dem Zwiespalt zwischen Glauben 
und Unglauben gesprochen; es gibt noch einen weiteren Zwiespalt: den Zwiespalt 
im Glauben! Wir wollen nicht die belgischen Verhältnisse haben, jenen ver- 
hängnißvollen Gegensatz, welchen die falsche Anwendung des Princips von der 
Freiheit der Kirche hervorbringt. Religiöse Dinge gehören allerdings nicht 
vor das Forum des Parlaments, aber wir haben sie nicht vorgebracht. Der 
Streit zwischen Staat und Kirche ist aus der Theorie herausgetreten; dieser 
Antrag ist ein Symptom des entbrannten Kampfes. In der katholischen Kirche 
vollzieht sich ein Scheidungsprozeß; wir stehen an den Anfängen einer Be- 
wegung, welche ebenso eine weltgeschichtliche werden kann, wie die Reformation. 
Noch ist der richtige Mann nicht gekommen, aber wir sind überzeugt, die Vor- 
sehung wird ihn im richtigen Moment schicken. (Bravo.) Aus dem Munde 
eines der ersten katholischen Theologen haben wir gehört, daß seinen prote- 
stirenden Standpunkt gegen die herrschende Richtung in Rom Hunderte von 
katholischen Geistlichen und viele Tausende von Laien theilen. Bald wird die 
Frage an die Staaten herantreten: Welches ist die katholische Kirche: (Großer 
Lärm.) Ich will Niemand verletzen, aber diese Dinge müssen gesagt werden. 
Wir stimmen dem ersten Theile Ihres Antrages gerne zu, aber wir wissen 
nicht, wie Sie dazu kommen, diese Dinge uns zu proponiren. Eher werden 
Sie die Quadratur des Zirkels finden, als die römischen Ansprüche mit dem 
Geist der Glaubensfreiheit versöhnen, welche Sie gestern forderten. Im Interesse 
des Friedens zwischen Kirche und Staat bitte ich um Ablehnung des Antrages. 
(Lebhafter Beifall.) Graf Frankenberg (freikons.): Ich bin von einem 
katholischen Wahlkreise zur Vertretung katholischer Interessen gewählt worden, 
muß mich aber gerade deßhalb gegen den Antrag erklären. Bevor noch einer 
von uns, die wir die motivirte Tagesordnung des Grafen Renard unterzeichnet 
haben, gesprochen hatte, schrieb die „Germania“, das Organ der clericalen 
Fraktion, daß die katholischen Unterzeichner das ihren Wählern gegebene Wort 
damit gebrochen hätten. Ich fordere den Abg. v. Ketteler, der so großen 
Einfluß auf diese Presse ausübt, auf, uns gegen solche Angriffe zu schützen. 
Die „katholische Phalanx“ hat durch die schlechte Wahl des Zeitpunktes für 
ihren Antrag, wie durch ihre Haltung in der Adreßdebatte, ihre Campagne 
sehr unglücklich eröffnet. Allerdings ist für die deutschen Katholiken die römische 
Frage eine internationale; aber um den Reichstag für diese Auffassung zu ge- 
winnen, durfte die Phalanx sich bei dem Erlaß der Adresse nicht schmollend 
zur Seite stellen, sondern mußte des Dichterworts gedenken: An's Vaterland, 
an's theure, schließ' Dich an, dort sind die starken Wurzeln Deiner Kraft, aber 
in der römischen Welt stehst Du allein! (Beifall.) Und Friede wird in dieser 
Welt erst sein, wenn deutscher Geist und deutsche Frömmigkeit in den Vatikan 
einziehen. Jetzt aber stehen Sie mit Ihrem Antrage allein da, nur Herr 
Sonnemann u. Gen. schließen sich Ihnen an. Diese Bundesgenossenschaft sollte 
Sie doch nachdenklich machen, namentlich Herrn Windthorst, der doch konservativ
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.