Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 101
zuverstehenden Satz erst recht verschärft werden. Vor Allem droht die ärgste
Verwirrung durch die Collision der Grundrechte mit den bezüglichen Be-
stimmungen der einzelnen Landesverfassungen. (Redner weist Dieß des Näheren
an den bayrischen Rechtsverhältnissen nach und sagt u. A.:) Art. 6 setzt fest,
daß die katholische Kirche ihre eigenen Angelegenheiten verwaltet. Ist damit
das placetum regium aufgehoben? Diese Frage würde zu den weitgreifendsten
Streitigkeiten führen, die von doppelter Wichtigkeit wären in diesem Augenblick,
in dem ein großer Theil der bayrischen Katholiken an dem placetum regium
seine Stütze findet und es nicht entbehren kann, um einen Boden für seine
rechtliche Existenz zu gewinnen und zu behaupten. (Lebhafter Beifall.) Weiter
— wer soll die Ausführungsgesetze zu dem Art. 6 erlassen? Abg. Windt-
horst hat daraus, daß das Vereinswesen dem Reiche untersteht, gefolgert, daß
auch die gesammte Cultusgesetzgebung von Reichswegen geregelt werden müsse.
Mit demselben Recht könnte er sagen, daß die Gemeindegesetzgebung dem Reiche
unterstehen müsse. Der Abg. Probst hat von dem Zwiespalt zwischen Glauben
und Unglauben gesprochen; es gibt noch einen weiteren Zwiespalt: den Zwiespalt
im Glauben! Wir wollen nicht die belgischen Verhältnisse haben, jenen ver-
hängnißvollen Gegensatz, welchen die falsche Anwendung des Princips von der
Freiheit der Kirche hervorbringt. Religiöse Dinge gehören allerdings nicht
vor das Forum des Parlaments, aber wir haben sie nicht vorgebracht. Der
Streit zwischen Staat und Kirche ist aus der Theorie herausgetreten; dieser
Antrag ist ein Symptom des entbrannten Kampfes. In der katholischen Kirche
vollzieht sich ein Scheidungsprozeß; wir stehen an den Anfängen einer Be-
wegung, welche ebenso eine weltgeschichtliche werden kann, wie die Reformation.
Noch ist der richtige Mann nicht gekommen, aber wir sind überzeugt, die Vor-
sehung wird ihn im richtigen Moment schicken. (Bravo.) Aus dem Munde
eines der ersten katholischen Theologen haben wir gehört, daß seinen prote-
stirenden Standpunkt gegen die herrschende Richtung in Rom Hunderte von
katholischen Geistlichen und viele Tausende von Laien theilen. Bald wird die
Frage an die Staaten herantreten: Welches ist die katholische Kirche: (Großer
Lärm.) Ich will Niemand verletzen, aber diese Dinge müssen gesagt werden.
Wir stimmen dem ersten Theile Ihres Antrages gerne zu, aber wir wissen
nicht, wie Sie dazu kommen, diese Dinge uns zu proponiren. Eher werden
Sie die Quadratur des Zirkels finden, als die römischen Ansprüche mit dem
Geist der Glaubensfreiheit versöhnen, welche Sie gestern forderten. Im Interesse
des Friedens zwischen Kirche und Staat bitte ich um Ablehnung des Antrages.
(Lebhafter Beifall.) Graf Frankenberg (freikons.): Ich bin von einem
katholischen Wahlkreise zur Vertretung katholischer Interessen gewählt worden,
muß mich aber gerade deßhalb gegen den Antrag erklären. Bevor noch einer
von uns, die wir die motivirte Tagesordnung des Grafen Renard unterzeichnet
haben, gesprochen hatte, schrieb die „Germania“, das Organ der clericalen
Fraktion, daß die katholischen Unterzeichner das ihren Wählern gegebene Wort
damit gebrochen hätten. Ich fordere den Abg. v. Ketteler, der so großen
Einfluß auf diese Presse ausübt, auf, uns gegen solche Angriffe zu schützen.
Die „katholische Phalanx“ hat durch die schlechte Wahl des Zeitpunktes für
ihren Antrag, wie durch ihre Haltung in der Adreßdebatte, ihre Campagne
sehr unglücklich eröffnet. Allerdings ist für die deutschen Katholiken die römische
Frage eine internationale; aber um den Reichstag für diese Auffassung zu ge-
winnen, durfte die Phalanx sich bei dem Erlaß der Adresse nicht schmollend
zur Seite stellen, sondern mußte des Dichterworts gedenken: An's Vaterland,
an's theure, schließ' Dich an, dort sind die starken Wurzeln Deiner Kraft, aber
in der römischen Welt stehst Du allein! (Beifall.) Und Friede wird in dieser
Welt erst sein, wenn deutscher Geist und deutsche Frömmigkeit in den Vatikan
einziehen. Jetzt aber stehen Sie mit Ihrem Antrage allein da, nur Herr
Sonnemann u. Gen. schließen sich Ihnen an. Diese Bundesgenossenschaft sollte
Sie doch nachdenklich machen, namentlich Herrn Windthorst, der doch konservativ