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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.
gemacht zu haben, der nicht wieder gut zu machen wäre. Ich wage den Ver-
such nicht. Ich habe mich von je her weniger davor gefürchtet, die Zusammen-
setzung der Versammlung werde mit Diäten eine für Staatszwecke und das
Maß des Fortschreitens, welches die Regierung glaubte festhalten zu sollen,
weniger zuverlässige sein, sondern ich erwartete hauptsächlich kurze Parlamente
als Wirkung der Diätenlosigkeit. Soll die Volksvertretung wirklich ein
lebendiges Bild der Bevölkerung zu geben fortfahren, so müssen wir kurze
Sessionen haben; denn sonst könnten alle die noch etwas anderes zu thun haben,
als sich dem Parlament zu widmen, sich nicht so bereitwillig und mit voller
Hingebung dazu hergeben. Nur in kurzen Parlamenten können gerade die
Tüchtigsten aus allen Berufszweigen dem Valerlande dienen. Es ist aber
Erfahrungssache, daß die Sessionen diätenloser Parlamente immer kürzer sind
als die der mit Diäten bedachten. Das preußische Herrenhaus hat immer
Neigung die Sitzungen abzukürzen, das Abgeordnetenhaus seine Thätigkeit
weiter fortzusetzen. (Widerspruch.) In dem letzteren gibt es einen Kern von
Abgeordneten die alle andern Beschäftigungen liegen lassen und nur nach dieser
Richtung hin dem Vaterlande dienen. Nach der Gründlichkeit mit der sie ihre
Stellung als Abgeordnete ausfüllen, können sie auch bei der höchsten Arbeits-
kraft nichts anderes thun. Diese Hingebung schätze ich sehr hoch, und würde
es bedauern, wenn sie fehlte; aber daß die aus der Volksvertretung einen
Beruf machenden Abgeordneten vorherrschend seien, halte ich nicht für wünschens-
werth. Dann wäre sie nicht mehr eine lebendige, alle Berufsclassen vertretende
Körperschaft, sondern nur eine neue Form der Bureaukratie. Meine Meinung
über die Diätenfrage, über die sich ja Bücher schreiben lassen, ist, wie ich be-
kräftigen kann, dieselbe geblieben. Die Diätenlosigkeit ist keine Inconsequenz
gegen das allgemeine Stimmrecht und kein Stehenbleiben auf dem halben
Wege. Man kann nicht jeden Weg bis ins Unabsehbare gehen, man hat einen
Punkt über den man nicht hinausgeht, und die Regierungen sind entschlossen,
nicht weiter zu gehen. In Betreff des Oberhauses muß ich zu meinem Be-
dauern sagen, daß ich schon früher Ueberzeugungen aufgegeben habe, die denen
der Abgg. Windthorst und Graf Münster verwandt waren; aber die politischen
Erfahrungen haben mich überzeugt, daß eine solche Versammlung den Zweck
eines Gegengewichtes gegen die Gewalt des allgemeinen Stimmrechts nicht er-
füllt. Ich selbst gehöre einer solchen, dem preußischen Herrenhause, an, und
Sie werden nicht verlangen, daß ich contra domum spreche. Aber ich habe
keinen Glauben an die Stärke dieses Gegengewichtes in jetzigen Zeiten. Wenn
eine frisch aus den Wahlen legitimirte, den Anspruch einer Vertretung des
ganzen Volkes in sich tragende Versammlung votirt, dann reicht jenes Gegen-
gewicht nicht aus, und ich brauche ein schwereres. Ein solches haben wir im
Bundesrath, welchen die Herren unbegreiflicherweise unter die gesetzgebenden
Factoren mitzuzählen vergessen. Die Verfassung weist ihm volle Gleich-
berechtigung an, und er bildet ein Staatenhaus im vollsten und in viel be-
rechtigterem Sinn als man gewöhnlich und z. B. in Amerika mit dem Be-
griff eines Staatenhauses verbindet. Im amerikanischen Senat stimmen nicht
die Staaten, sondern die Individuen, im Bundesrath aber Sachsen, nicht der
Frhr. v. Friesen. Sein Votum ist das des Königreichs Sachsen, es stellt die
Diagonale aller Kräfte dieses Staates dar, das Votum der sächsischen Krone,
modificirt durch die sächsische Landesvertretung und das Staatsministerium.
Dasselbe könnte ich von den freien Städten sagen: das ganze Gewicht der
reichen, großen, mächtigen und intelligenten Hansestädte spricht aus dem Votum
ihrer Vertreter im Bundesrathe. Die Achtung, welche Sie dem Votum des
Bundesrathes schuldig sind, würden Sie 25 einzelnen Herren nicht zusprechen.
Jede Neuerung an dieser sehr glücklich gefundenen Institution hielte ich für
unzulässig. Ich glaube, der Bundesrath hat eine große Zukunft, indem er
zum erstenmal den Versuch macht den Bundesstaat in seiner höchsten Spitze
sich gewissermaßen als ein republikanisches Collegium constituiren zu lassen.