Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

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                       Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
gemacht zu haben, der nicht wieder gut zu machen wäre. Ich wage den Ver- 
such nicht. Ich habe mich von je her weniger davor gefürchtet, die Zusammen- 
setzung der Versammlung werde mit Diäten eine für Staatszwecke und das 
Maß des Fortschreitens, welches die Regierung glaubte festhalten zu sollen, 
weniger zuverlässige sein, sondern ich erwartete hauptsächlich kurze Parlamente 
als Wirkung der Diätenlosigkeit. Soll die Volksvertretung wirklich ein 
lebendiges Bild der Bevölkerung zu geben fortfahren, so müssen wir kurze 
Sessionen haben; denn sonst könnten alle die noch etwas anderes zu thun haben, 
als sich dem Parlament zu widmen, sich nicht so bereitwillig und mit voller 
Hingebung dazu hergeben. Nur in kurzen Parlamenten können gerade die 
Tüchtigsten aus allen Berufszweigen dem Valerlande dienen. Es ist aber 
Erfahrungssache, daß die Sessionen diätenloser Parlamente immer kürzer sind 
als die der mit Diäten bedachten. Das preußische Herrenhaus hat immer 
Neigung die Sitzungen abzukürzen, das Abgeordnetenhaus seine Thätigkeit 
weiter fortzusetzen. (Widerspruch.) In dem letzteren gibt es einen Kern von 
Abgeordneten die alle andern Beschäftigungen liegen lassen und nur nach dieser 
Richtung hin dem Vaterlande dienen. Nach der Gründlichkeit mit der sie ihre 
Stellung als Abgeordnete ausfüllen, können sie auch bei der höchsten Arbeits- 
kraft nichts anderes thun. Diese Hingebung schätze ich sehr hoch, und würde 
es bedauern, wenn sie fehlte; aber daß die aus der Volksvertretung einen 
Beruf machenden Abgeordneten vorherrschend seien, halte ich nicht für wünschens- 
werth. Dann wäre sie nicht mehr eine lebendige, alle Berufsclassen vertretende 
Körperschaft, sondern nur eine neue Form der Bureaukratie. Meine Meinung 
über die Diätenfrage, über die sich ja Bücher schreiben lassen, ist, wie ich be- 
kräftigen kann, dieselbe geblieben. Die Diätenlosigkeit ist keine Inconsequenz 
gegen das allgemeine Stimmrecht und kein Stehenbleiben auf dem halben 
Wege. Man kann nicht jeden Weg bis ins Unabsehbare gehen, man hat einen 
Punkt über den man nicht hinausgeht, und die Regierungen sind entschlossen, 
nicht weiter zu gehen. In Betreff des Oberhauses muß ich zu meinem Be- 
dauern sagen, daß ich schon früher Ueberzeugungen aufgegeben habe, die denen 
der Abgg. Windthorst und Graf Münster verwandt waren; aber die politischen 
Erfahrungen haben mich überzeugt, daß eine solche Versammlung den Zweck 
eines Gegengewichtes gegen die Gewalt des allgemeinen Stimmrechts nicht er- 
füllt. Ich selbst gehöre einer solchen, dem preußischen Herrenhause, an, und 
Sie werden nicht verlangen, daß ich contra domum spreche. Aber ich habe 
keinen Glauben an die Stärke dieses Gegengewichtes in jetzigen Zeiten. Wenn 
eine frisch aus den Wahlen legitimirte, den Anspruch einer Vertretung des 
ganzen Volkes in sich tragende Versammlung votirt, dann reicht jenes Gegen- 
gewicht nicht aus, und ich brauche ein schwereres. Ein solches haben wir im 
Bundesrath, welchen die Herren unbegreiflicherweise unter die gesetzgebenden 
Factoren mitzuzählen vergessen. Die Verfassung weist ihm volle Gleich- 
berechtigung an, und er bildet ein Staatenhaus im vollsten und in viel be- 
rechtigterem Sinn als man gewöhnlich und z. B. in Amerika mit dem Be- 
griff eines Staatenhauses verbindet. Im amerikanischen Senat stimmen nicht 
die Staaten, sondern die Individuen, im Bundesrath aber Sachsen, nicht der 
Frhr. v. Friesen. Sein Votum ist das des Königreichs Sachsen, es stellt die 
Diagonale aller Kräfte dieses Staates dar, das Votum der sächsischen Krone, 
modificirt durch die sächsische Landesvertretung und das Staatsministerium. 
Dasselbe könnte ich von den freien Städten sagen: das ganze Gewicht der 
reichen, großen, mächtigen und intelligenten Hansestädte spricht aus dem Votum 
ihrer Vertreter im Bundesrathe. Die Achtung, welche Sie dem Votum des 
Bundesrathes schuldig sind, würden Sie 25 einzelnen Herren nicht zusprechen. 
Jede Neuerung an dieser sehr glücklich gefundenen Institution hielte ich für 
unzulässig. Ich glaube, der Bundesrath hat eine große Zukunft, indem er 
zum erstenmal den Versuch macht den Bundesstaat in seiner höchsten Spitze 
sich gewissermaßen als ein republikanisches Collegium constituiren zu lassen.
	        
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