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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.
Nicht ausgesprochen sodann, aber vorausgesetzt in der Verfassung des Reichs
ist das Bestehen von Verfassungen in den einzelnen Staaten, kraft welcher
die Gesetzgebung in den der Reichsgesetzgebung nicht unterliegenden Angelegen-
heiten an die Zustimmung, die Landesverwaltung aber an die Controle ge-
wählter Landesvertretungen geknüpft ist. Eben deßhalb wird die Landesver-
fassung durch die Reichsverfassung nicht vollständig ersetzt. Man ist vor die
Frage gestellt, ob das Verfassungsrecht eines unmittelbaren Reichslandes ein-
seitig in der Reichsverfassung bestehen kann und, wenn nicht, in welcher Weise
eine Landesverfassung für Elsaß und Lothringen (in welchen Gebieten die
französische Staatsverfassung nach allen Theilen außer Kraft tritt) geschaffen
und wodurch sie ersetzt werden soll. Auch die regelmäßigen Funktionen und
die weitere Entwicklung des Reichs könnten vielleicht nicht gewinnen durch die
Einfügung einer weiteren Complikation in seinen staatsrechtlichen Organismus.
Ob durchschlagende und dauernde Gründe gegen die Vereinigung von Elsaß
und Lothringen mit der preußischen Monarchie vorliegen, darüber hat selbst-
verständlich das Ermessen der preußischen Regierung zu entscheiden. Hier sollte
nur constatirt werden, daß mindestens kein Widerstreben einer solchen
Lösung entgegentreten würde. Dieser Darlegung wurde eine weitere
Folge im Ausschusse nicht gegeben. Angeführt wurde unter Anderem: I. Dafür,
daß die Bevölkerung von Elsaß und Lothringen das unmittelbare Verhältniß
zum Reiche wünsche, liegen keine thatsächlichen Anhaltspunkte vor. II. Wenn
die Verfassung des deutschen Reichs in Elsaß und Lothringen in Kraft treten
soll, so werden gewisse Abänderungen resp. Ergänzungen der Verfassung noth-
wendig werden, z. B. bei der Beschreibung des Bundesgebiets, der Feststellung
der in Elsaß und Lothringen zu wählenden Reichstagsabgeordneten und auch
hinsichtlich der Bildung des Bundesraths. Wenigstens entsendet der Kaiser
keine Bevollmächtigten zum Bundesrath und sind überhaupt diese Bevoll-
mächtigten nicht bloß Vertreter der Regierungen, sondern Mitglieder einer
Versammlung, die in gewissem Maße die Funktionen eines Staatenhauses aus-
übt und bei deren Beschickung auch die Bevölkerungen wesentlich interessirt
sind. Es kann allerdings gesagt werden, daß sich solche Abänderungen und
Ergänzungen von selbst verstehen. Es dürfte aber sich doch schon zur Ver-
hütung des möglichen Mißverständnisses, als solle Elsaß und Lothringen durch
den Entwurf eine Vertretung im Bundesrathe versagt werden, empfehlen, eine
bezügliche Hinweisung in die Vorlage aufzunehmen. In den Gesetzen, wodurch
1866 Hannover u. s. w. mit Preußen vereinigt wurden, fand sich die Be-
stimmung, daß die preußische Verfassung am 1. Oktober 1867 daselbst in
Kraft treten solle, und der Satz: „Die zu diesem Behufe nothwendigen Ab-
änderungen, Zusätze und Ausführungsbestimmungen werden durch besondere
Gesetze festgestellt.“ Die Aufnahme eines ähnlichen Satzes auch in die gegen-
wärtige Vorlage möchte sich empfehlen. Daß eine Uebergangsperiode erforder-
lich, bevor das neue Reichsland in die Gemeinschaft des Reichs mit den ver-
fassungsmäßigen Rechten und Pflichten eintreten kann, daß die abgetretenen
Bevölkerungen selbst einen solchen Uebergang wünschen müssen, wird einer be-
sonderen Begründung nicht bedürfen. Der 1. Januar 1874, zusammenfallend
mit der Erneuerung der Legislaturperiode des Reichstags, scheint nach all den
obwaltenden Verhältnissen richtig gewählt zu seyn. III. Daß einzelne Abschnitte
und Bestimmungen der Reichsverfassung schon vor dem 1. Januar 1874 sollen
in Kraft treten können, erscheint durchaus zweckmäßig, ja wohl nothwendig.
Man denke an die Bestimmungen über Indigenat, Zoll- und Handelswesen,
Eisenbahn-, Post- und Telegraphenwesen, Kriegswesen. Eine Mitwirkung des
Reichstags hiebei, bevor die Stellung des Landes nach allen Theilen eine
normale geworden, möchte um so eher auszuschließen sein, als der Reichstag
in außerordentlicher Weise Behufs der Einführung einzelner Theile in den
neuen Gebieten doch nicht wohl berufen werden kann. IV. Daß in der Ueber-
gangsperiode bis zum 1. Januar 1874 das Gesetzgebungsrecht überhaupt auf