Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

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                      Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
Nicht ausgesprochen sodann, aber vorausgesetzt in der Verfassung des Reichs 
ist das Bestehen von Verfassungen in den einzelnen Staaten, kraft welcher 
die Gesetzgebung in den der Reichsgesetzgebung nicht unterliegenden Angelegen- 
heiten an die Zustimmung, die Landesverwaltung aber an die Controle ge- 
wählter Landesvertretungen geknüpft ist. Eben deßhalb wird die Landesver- 
fassung durch die Reichsverfassung nicht vollständig ersetzt. Man ist vor die 
Frage gestellt, ob das Verfassungsrecht eines unmittelbaren Reichslandes ein- 
seitig in der Reichsverfassung bestehen kann und, wenn nicht, in welcher Weise 
eine Landesverfassung für Elsaß und Lothringen (in welchen Gebieten die 
französische Staatsverfassung nach allen Theilen außer Kraft tritt) geschaffen 
und wodurch sie ersetzt werden soll. Auch die regelmäßigen Funktionen und 
die weitere Entwicklung des Reichs könnten vielleicht nicht gewinnen durch die 
Einfügung einer weiteren Complikation in seinen staatsrechtlichen Organismus. 
Ob durchschlagende und dauernde Gründe gegen die Vereinigung von Elsaß 
und Lothringen mit der preußischen Monarchie vorliegen, darüber hat selbst- 
verständlich das Ermessen der preußischen Regierung zu entscheiden. Hier sollte 
nur constatirt werden, daß mindestens kein Widerstreben einer solchen 
Lösung entgegentreten würde. Dieser Darlegung wurde eine weitere 
Folge im Ausschusse nicht gegeben. Angeführt wurde unter Anderem: I. Dafür, 
daß die Bevölkerung von Elsaß und Lothringen das unmittelbare Verhältniß 
zum Reiche wünsche, liegen keine thatsächlichen Anhaltspunkte vor. II. Wenn 
die Verfassung des deutschen Reichs in Elsaß und Lothringen in Kraft treten 
soll, so werden gewisse Abänderungen resp. Ergänzungen der Verfassung noth- 
wendig werden, z. B. bei der Beschreibung des Bundesgebiets, der Feststellung 
der in Elsaß und Lothringen zu wählenden Reichstagsabgeordneten und auch 
hinsichtlich der Bildung des Bundesraths. Wenigstens entsendet der Kaiser 
keine Bevollmächtigten zum Bundesrath und sind überhaupt diese Bevoll- 
mächtigten nicht bloß Vertreter der Regierungen, sondern Mitglieder einer 
Versammlung, die in gewissem Maße die Funktionen eines Staatenhauses aus- 
übt und bei deren Beschickung auch die Bevölkerungen wesentlich interessirt 
sind. Es kann allerdings gesagt werden, daß sich solche Abänderungen und 
Ergänzungen von selbst verstehen. Es dürfte aber sich doch schon zur Ver- 
hütung des möglichen Mißverständnisses, als solle Elsaß und Lothringen durch 
den Entwurf eine Vertretung im Bundesrathe versagt werden, empfehlen, eine 
bezügliche Hinweisung in die Vorlage aufzunehmen. In den Gesetzen, wodurch 
1866 Hannover u. s. w. mit Preußen vereinigt wurden, fand sich die Be- 
stimmung, daß die preußische Verfassung am 1. Oktober 1867 daselbst in 
Kraft treten solle, und der Satz: „Die zu diesem Behufe nothwendigen Ab- 
änderungen, Zusätze und Ausführungsbestimmungen werden durch besondere 
Gesetze festgestellt.“ Die Aufnahme eines ähnlichen Satzes auch in die gegen- 
wärtige Vorlage möchte sich empfehlen. Daß eine Uebergangsperiode erforder- 
lich, bevor das neue Reichsland in die Gemeinschaft des Reichs mit den ver- 
fassungsmäßigen Rechten und Pflichten eintreten kann, daß die abgetretenen 
Bevölkerungen selbst einen solchen Uebergang wünschen müssen, wird einer be- 
sonderen Begründung nicht bedürfen. Der 1. Januar 1874, zusammenfallend 
mit der Erneuerung der Legislaturperiode des Reichstags, scheint nach all den 
obwaltenden Verhältnissen richtig gewählt zu seyn. III. Daß einzelne Abschnitte 
und Bestimmungen der Reichsverfassung schon vor dem 1. Januar 1874 sollen 
in Kraft treten können, erscheint durchaus zweckmäßig, ja wohl nothwendig. 
Man denke an die Bestimmungen über Indigenat, Zoll- und Handelswesen, 
Eisenbahn-, Post- und Telegraphenwesen, Kriegswesen. Eine Mitwirkung des 
Reichstags hiebei, bevor die Stellung des Landes nach allen Theilen eine 
normale geworden, möchte um so eher auszuschließen sein, als der Reichstag 
in außerordentlicher Weise Behufs der Einführung einzelner Theile in den 
neuen Gebieten doch nicht wohl berufen werden kann. IV. Daß in der Ueber- 
gangsperiode bis zum 1. Januar 1874 das Gesetzgebungsrecht überhaupt auf
	        
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