Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

136                  Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
15. Mai. (Deutsch-franz. Krieg.) Der Friedensvertrag mit Frankreich 
wird auch von den Vertretern Bayerns, Württembergs und Badens 
unterzeichnet. 
„ „ (Deutsches Reich.) Reichstag: nimmt den Antrag Wiggers 
betr. Aufhebung der Cautionspflicht periodischer Druckschriften und 
Entziehung der Befugniß zum Betrieb eines Preßgewerbes auch in 
dritter Lesung an. 
„ „ (Bayern.) Die sämmtlichen bayrischen Bischöfe suchen sich in 
einer Collectiv-Eingabe an den König darüber zu rechtfertigen, daß 
sie die vaticanischen Concilsbeschlüsse trotz des ihnen ausdrücklich ver- 
weigerten kgl. Placets doch verkündigt haben und bemühen sich, die 
angebliche Staatsgefährlichkeit des neuen Dogmass ihrerseits zu wider- 
legen: 
       „Wie schon vor dem Beginne des vaticanischen Concils, so hat auch nach 
der im Sommer vorigen Jahres eingetretenen Unterbrechung desselben Ew. 
Maj. k. Staatsregierung durch Ministerialerlaß vom 9. August 1870 die 
Erzbischöfe und Bischöfe des Reiches darauf aufmerksam gemacht, daß zur 
Verkündung der vaticanischen Concilsbeschlüsse die landesherrliche Genehmigung 
eingeholt werden müsse. So sehr nun auch die allerehrfurchtsvollst Unter- 
zeichneten bestrebt sind und es für ihre Gewissenspflicht erachten, den Gläubigen 
durch das Beispiel getreuester Beobachtung der Staatsgesetze voranzuleuchten, 
so war und ist es ihnen doch unmöglich, die in der dritten und vierten öffent- 
lichen Sitzung der genannten öcumenischen Synode gefaßten und von Papst 
Pius IX. für die ganze Kirche feierlich publicirten Beschlüsse über den ka- 
tholischen Glauben und über die Kirche Christi erst dann in dem öffentlichen 
Unterrichte über die katholische Religion zu berücksichtigen, wenn das Placetum 
regium erfolgt sein würde.  .  . Es ist ein katholischer Fundamentalsatz, daß 
die Definition eines Dogmas keine Veränderung des eigentlichen Lehrgehaltes 
sei, somit auch keinerlei Veränderung in der Kirche selbst hervorrufen könne, 
daß die Definition keine neue Lehre schaffe, sondern nur eine alte bereits vor- 
handene Wahrheit verkünde. Dieser Fundamentalsatz gilt natürlich auch für 
die dogmatischen Definitionen des vaticanischen Concils. Die Bischöfe haben 
nicht unterlassen, in ihren Hirtenbriefen nachdrucksamst darauf aufmerksam zu 
machen und die gegentheiligen Behauptungen als unwahr und irrig zu be- 
zeichnen. Sie haben nicht unterlassen, auf Grund dessen weiter zu constatiren, 
daß durch die vaticanischen Concilsbeschlüsse die bisherigen Beziehungen zwischen 
Staat und Kirche nicht alterirt, die Staatsverfassungen nicht beeinträchtigt 
und die Rechte der Andersgläubigen nicht gefährdet werden können. Wie 
groß war deßwegen unsere Betrübniß und unser Schmerz, der höchsten Mini- 
sterialentschließung vom 22. März entnehmen zu müssen, daß die königliche 
Staatsregierung nicht das einzig competente Urtheil der Bischöfe zum Maß- 
stabe ihrer Entscheidungen genommen, sondern die Entstellungen und Ver- 
dächtigungen der Gegner und Feinde der Kirche sich angeeignet habe und von 
diesen sich leiten ließ. Die königliche Staatsregierung behauptet nemlich, 
„daß durch die bezeichnete dogmatische Constitution und die aus derselben sich 
ergebenden Consequenzen nicht etwa bloß die inneren Verhältnisse der katholischen 
Kirche, sondern auch die zwischen Kirche und Staat, wie sie bisher in Bayern 
verstanden, gehandhabt und festgehalten worden sind, eine große und durch- 
greifende Veränderung erleiden" .  .  .  „daß, falls die in dieser Constitution 
definirte Machtstellung des Oberhauptes der katholischen Kirche auf gewissen 
Gebieten, welche übrigens bereits durch frühere päpstliche Erlasse betreten 
worden sind, in der That verwerthet wird, Fundamentalsätze des bayrischen
	        
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