Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

                       Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.                                      147 
einer energischen und entschlossenen Regierung, daß sie kleine Feuer, die irgendwo 
aufgehen könnten, nicht fürchtet. Wie weit man außerdem in der Selbst- 
regierung des Landes durch sich selbst wird gehen können, darüber getraue ich 
mich kaum schon ein Urtheil auszusprechen, jedenfalls halte ich es rathsam, 
hier wie überall so weit zu gehen, wie es irgend mit der allgemeinen Sicher- 
heit des Reiches und des Landes verträglich sein wird. Es ist das eine Auf- 
gabe, vor die ich mich gestellt fühle, die mir ja in meiner bisherigen Lebens- 
thätigkeit neu ist und eine beschwerliche, sehr schwierige, sehr verantwortliche 
Aufgabe, an die heranzutreten für mich nicht ohne Bedenken ist. Wenn — nachdem 
die Aufgabe, die ich mir bei Uebernahme des preuß. auswärtigen Ministeriums 
gestellt habe, oder ich will sagen, die mir vorgeschwebt hat: die Herstellung 
des Deutschen Reiches in irgend einer Gestalt, in einer kürzern Zeit, als ich 
nach menschlicher Berechnung erwarten konnte, und in vollerem Maße, als ich 
damals hoffte zu erleben, sich erfüllt hat — ich meine politischen Verpflichtungen 
meinem Vaterlande gegenüber einiger Maßen als ausgelöst betrachte, und 
wenn ich in diesem Stadium bei abnehmender Gesundheit und abnehmender 
Arbeitskraft vor einer solchen Aufgabe nicht zurückschrecke, so leitet mich dabei 
ein gewisses Gefühl der Verantwortlichkeit für das Schicksal der Bewohner 
dieser Provinz, wegen des Antheils, den ich an ihrer Loslösung von Frank- 
reich habe; ich fühle mich berufen, der Advocat in dem neuen Staatswesen, 
dem sie beitreten, so weit es mir gegeben ist, zu sein, und ich möchte sie ungern 
im Stiche lassen. Zur Durchführung dieser Aufgabe bedarf ich eines entgegen- 
kommenden Vertrauens der Länder selbst, aber vor allen Dingen bedarf ich 
des vollen Vertrauens der Reichsbehörden, des Reichstages und des Bundes- 
raths, die hinter mir stehen, und in deren Namen ich dort zu handeln habe, 
und da bin ich genöthigt, der Specialdebatte einiger Maßen vorzugreifen. 
Den Ausdruck dieses Vertrauens vermisse ich in zwei Bestimmungen, die Sie 
unserer Vorlage hinzugefügt haben, ja, ich finde in denselben einen decidirten 
Ausdruck des Mißtrauens: das Eine ist die Verkürzung der Frist, für welche 
Sie uns Vollmacht geben wollen, und für welche Sie Dictatur einführen 
wollen. In anderthalb Jahren, m. H., läßt sich viel Böses thun, aber nicht 
sehr viel Gutes schaffen! Ich habe behaupten hören, daß ersteres in den neuen 
preußischen Provinzen einiger Maßen der Fall gewesen sei, hauptsächlich aus 
der Ueberhastung der Thätigkeit, mit der man vorgegangen ist; ich kenne die 
Verhältnisse nicht genau genug, um über die Berechtigung dieser Klagen zu 
urtheilen, aber ich erlaube mir, darauf aufmerksam zu machen, daß die Auf- 
gaben ganz verschiedene sind. Dort handelt es sich darum, eine auf dynastischem 
Boden gewachsene Selbständigkeit einem großen Gemeinwesen, wie es Preußen 
war, zu assimiliren, und es dadurch vorzubereiten. Hier handelt es sich gerade 
darum, eine Selbständigkeit zu entwickeln, die bisher unter dem starken Druck 
einer Centralisation gelitten hat. Um sich über viele Fragen nicht nur selbst 
ein Urtheil zu bilden, sondern auch Ihnen und dem Bundesrath für die spätere 
Entscheidung ein Urtheil zu unterbreiten, ist der Termin von anderthalb Jahren, 
fürchte ich, zu kurz gegriffen. Ja, ich halte auch schon den Termin bis zum 
Jahre 1874, den wir selbst gestellt haben, für einen ziemlich willkürlich ge- 
griffenen. Es kann eben so gut dann das Bedürfniß vorhanden sein, diese 
Verwaltung, vor deren Anfang wir vielleicht stehen, zu verlängeren, falls sie 
sich bewährt, wie ja auch das Bedürfniß eintreten kann, das gebe ich gern zu, 
Ihnen schon nach einem halben Jahre, nach einem ganzen Jahre zu sagen, 
die Sache sei so weit fertig, um in die Reichsverfassung aufzugehen, und daß 
wir dann weitere Schritte zu deren voller Anwendung thun können. Ich möchte 
Sie bitten, doch nicht dem Verdacht Raum zu geben, als ob in der Regierung 
— und ich kann hiebei nach meiner ganzen amtlichen Stellung meine Person 
einiger Maßen in den Vordergrund stellen — als ob in mir irgend ein Be- 
streben vorhanden wäre, diese schwerwiegende Verantwortlichkeit eine Stunde 
länger zu tragen, als durchaus sachlich nothwendig ist. Ich bin meiner 
                                                                                                                  10*
	        
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