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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.
Verfassungsbestimmungen und aller Concordate, welche der katholischen Kirche
ihre rechtliche Existenz, den Besitz und Genuß ihres Eigenthums garantiren.
„VIII. Durch jene falschen Deutungen des wahren Sinnes der Concils-
beschlüsse hat man zugleich die unbegründetsten Befürchtungen aller Art an-
geregt. Ja man hat sich sogar nicht gescheut, von der Nothwendigkeit des
Ausschlusses der Katholiken vom Fortgenusse der vollen politischen Rechte zu
reden. Das also ist die Gleichberechtigung, das die Parität, das die Unab-
hängigkeit der bürgerlichen und politischen Rechte von dem religiösen Be-
kenntnisse. Was ist aber der kurze Ausdruck aller jener Befürchtungen? Man
bezeichnet als ihren Gegenstand die bevorstehende Wiedereinführung des „hier-
archisch-mittelalterlichen Systems“. Aber welch ein Geschichtsverständniß setzt
es voraus, wenn man glaubt, vergangene Zeiten und die in ihnen waltenden
Regierungssysteme lassen sich wieder einfach in die jetzige oder künftige Welt
zurückführen? So wenig der einzelne Mensch zu den Tagen seiner Vergangenheit
zurückzukehren vermag, so wenig werden auch die Völker und die Staaten
zurückkehren zu dem Stande des Mittelalters. Die Kirche, unwandelbar in
ihrem Wesen, wird, geleitet vom heiligen Geiste, zu den Völkern und Staaten
stets sich stellen, wie deren Sein und Wandel es mit sich bringt. Mutter
und Lehrerin aller Gläubigen muß und wird sie allezeit bleiben; sie wird
ihnen gegenüber ihre Pflicht zu lehren, zu warnen, selbst zu strafen, stets
ausüben, welchem Volke und Staate sie auch angehören mögen, sofern sie
gegen ihre geistige Mutter sich auflehnen und Gesetze der christlichen Sitten-
lehre verletzen. Nur wer die Weltgeschichte tiefer aufzufassen nicht gelernt hat
und wer zugleich die Wege der Vorsehung im Gange der Kirche verkennt,
kann im Ernste befürchten, daß diese die Zustände vergangener Zeiten wieder
in ihrer früheren Gestalt vom Grabe erwecken werde oder könne. Es ist
offenbar Täuschung, wenn man aus den Beschlüssen des vaticanischen Concils
folgert, daß alle älteren päpstlichen Bullen oder Constitutionen, welche staat-
liche und bürgerliche Verhältnisse berühren, nun den Character unfehlbarer
Lehrentscheidungen an sich tragen. Man verschweigt, wie streng begrenzt die
Entscheidungen ex cathedra sind, und wie wenige der oben bezeichneten Bullen
u. s. w. unter diesen Begriff fallen könen. Man übersieht, daß auch bei
wirklich dogmatischen Bullen, wie bei Concilsbeschlüssen, nur der förmlich ent-
schiedene Lehrsatz die zum Glauben verpflichtende Kraft hat, keineswegs aber
die Gesammtheit des übrigen Inhalts, seien es Motive oder Beweise. Von
allen den Bullen, welche bisher die Gegner mit Vorliebe als staatsgefährlich
bezeichnen, ist nur Eine dogmatisch. Diese ist aber zugleich von einem all-
gemeinen Concil (die vom Papst Bonifacius VIII. erlassene Bulle: Unam
sanctam. V. Lateran. Concil) angenommen, und es müßte demnach die Un-
fehlbarkeit der allgemeinen Kirchenversammlungen und der Kirche eben so ge-
fährlich für den Staat sein, wie die der Päpste. Zudem enthält jene Bulle
in der That nur eine Lehrentscheidung über den Primat, welche nichts aus-
spricht, als was alle Katholiken von jeher ohne Gefahr für den Staat
glaubten. („Porro subesse Romano Pontifici omni humanae creaturae de-
claramus, dicimus, definismus et pronuntiamus omnino esse de necessitate
salutis“. Der Ausdruck: omni humanae creaturae ist entlehnt aus dem
I. Briefe des heil. Petrus II, 13, und wird im fünften Concil des Laterans
vom Papst Leo X. erklärt durch die Worte: omnes Christi fideles). Alle
anderen Bullen, die zumeist von den Gegnern hervorgehoben werden, sind nicht
dogmatischer Natur: sie sind Disciplinargesetze und Strafsentenzen, welche
weder unwandelbarer Natur noch unverjährbar sind, und welche den all-
gemeinen Bedingungen sowohl der positiven menschlichen Gesetzgebung
überhaupt als des kanonischen Rechtes insbesondere unterliegen. Unter
diesen Umständen können wir in dem ungerechtfertigten und leidenschaftlichen
Ausbeuten solcher päpstlichen Erlasse nur Versuche sehen, die Geister zu
verwirren und Haß zu erzeugen. Ueber die Richtung einer großen geistigen