Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

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                     Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
Verfassungsbestimmungen und aller Concordate, welche der katholischen Kirche 
ihre rechtliche Existenz, den Besitz und Genuß ihres Eigenthums garantiren. 
       „VIII. Durch jene falschen Deutungen des wahren Sinnes der Concils- 
beschlüsse hat man zugleich die unbegründetsten Befürchtungen aller Art an- 
geregt. Ja man hat sich sogar nicht gescheut, von der Nothwendigkeit des 
Ausschlusses der Katholiken vom Fortgenusse der vollen politischen Rechte zu 
reden. Das also ist die Gleichberechtigung, das die Parität, das die Unab- 
hängigkeit der bürgerlichen und politischen Rechte von dem religiösen Be- 
kenntnisse. Was ist aber der kurze Ausdruck aller jener Befürchtungen? Man 
bezeichnet als ihren Gegenstand die bevorstehende Wiedereinführung des „hier- 
archisch-mittelalterlichen Systems“. Aber welch ein Geschichtsverständniß setzt 
es voraus, wenn man glaubt, vergangene Zeiten und die in ihnen waltenden 
Regierungssysteme lassen sich wieder einfach in die jetzige oder künftige Welt 
zurückführen? So wenig der einzelne Mensch zu den Tagen seiner Vergangenheit 
zurückzukehren vermag, so wenig werden auch die Völker und die Staaten 
zurückkehren zu dem Stande des Mittelalters. Die Kirche, unwandelbar in 
ihrem Wesen, wird, geleitet vom heiligen Geiste, zu den Völkern und Staaten 
stets sich stellen, wie deren Sein und Wandel es mit sich bringt. Mutter 
und Lehrerin aller Gläubigen muß und wird sie allezeit bleiben; sie wird 
ihnen gegenüber ihre Pflicht zu lehren, zu warnen, selbst zu strafen, stets 
ausüben, welchem Volke und Staate sie auch angehören mögen, sofern sie 
gegen ihre geistige Mutter sich auflehnen und Gesetze der christlichen Sitten- 
lehre verletzen. Nur wer die Weltgeschichte tiefer aufzufassen nicht gelernt hat 
und wer zugleich die Wege der Vorsehung im Gange der Kirche verkennt, 
kann im Ernste befürchten, daß diese die Zustände vergangener Zeiten wieder 
in ihrer früheren Gestalt vom Grabe erwecken werde oder könne. Es ist 
offenbar Täuschung, wenn man aus den Beschlüssen des vaticanischen Concils 
folgert, daß alle älteren päpstlichen Bullen oder Constitutionen, welche staat- 
liche und bürgerliche Verhältnisse berühren, nun den Character unfehlbarer 
Lehrentscheidungen an sich tragen. Man verschweigt, wie streng begrenzt die 
Entscheidungen ex cathedra sind, und wie wenige der oben bezeichneten Bullen 
u. s. w. unter diesen Begriff fallen könen. Man übersieht, daß auch bei 
wirklich dogmatischen Bullen, wie bei Concilsbeschlüssen, nur der förmlich ent- 
schiedene Lehrsatz die zum Glauben verpflichtende Kraft hat, keineswegs aber 
die Gesammtheit des übrigen Inhalts, seien es Motive oder Beweise. Von 
allen den Bullen, welche bisher die Gegner mit Vorliebe als staatsgefährlich 
bezeichnen, ist nur Eine dogmatisch. Diese ist aber zugleich von einem all- 
gemeinen Concil (die vom Papst Bonifacius VIII. erlassene Bulle: Unam 
sanctam. V. Lateran. Concil) angenommen, und es müßte demnach die Un- 
fehlbarkeit der allgemeinen Kirchenversammlungen und der Kirche eben so ge- 
fährlich für den Staat sein, wie die der Päpste. Zudem enthält jene Bulle 
in der That nur eine Lehrentscheidung über den Primat, welche nichts aus- 
spricht, als was alle Katholiken von jeher ohne Gefahr für den Staat 
glaubten. („Porro subesse Romano Pontifici omni humanae creaturae de- 
claramus, dicimus, definismus et pronuntiamus omnino esse de necessitate 
salutis“. Der Ausdruck: omni humanae creaturae ist entlehnt aus dem 
I. Briefe des heil. Petrus II, 13, und wird im fünften Concil des Laterans 
vom Papst Leo X. erklärt durch die Worte: omnes Christi fideles). Alle 
anderen Bullen, die zumeist von den Gegnern hervorgehoben werden, sind nicht 
dogmatischer Natur: sie sind Disciplinargesetze und Strafsentenzen, welche 
weder unwandelbarer Natur noch unverjährbar sind, und welche den all- 
gemeinen Bedingungen sowohl der positiven menschlichen Gesetzgebung 
überhaupt als des kanonischen Rechtes insbesondere unterliegen. Unter 
diesen Umständen können wir in dem ungerechtfertigten und leidenschaftlichen 
Ausbeuten solcher päpstlichen Erlasse nur Versuche sehen, die Geister zu 
verwirren und Haß zu erzeugen. Ueber die Richtung einer großen geistigen
	        
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