Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

             Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.                                 165 
Sie lehnt den Antrag des Rectors der Leipziger Universität Dr. Zarncke, die 
ursprüngliche Vorlage des Kirchenregiments wiederherzustellen, gegen 24 Stim- 
men ab und nimmt dieselbe mit 46 gegen obige 24 Stimmen in der Weise 
an, daß das zu errichtende Landesconsistorium nicht bloß die Ueberwachung 
des Religionsunterrichts, sondern auch der sittlich-religiösen Erziehung in allen 
Unterrichtsanstalten des Landes zu führen habe. Sittlich-religiöse Erziehung 
ist allerdings ein sehr dehnbarer Begriff, man kann darunter wenig mehr als 
Durchdringung der Schule mit sittlich-religiösem Geiste verstehen; die Redner 
der Mehrheit lassen aber ziemlich deutlich erkennen, daß sie nicht viel weniger 
als die Controle der Kirche über die ganze Schule verlangen. Superintendent 
Meier aus Dresden stellt in dieser Richtung eine Art index doctrinarum 
prohibitarum auf, welche, auf der Schule gelehrt, die Kirche nicht dulden 
dürfe, so z. B. den Darwinismus. Hiebei constatirt der Rector Zarncke, daß 
die fünf Professoren der Universität Leipzig, welche daselbst Naturwissenschaften 
vortragen, sämmtlich Anhänger der Darwin'schen Theorie sind. Nur in einem 
Punkte gibt die streng-orthodoxe Mehrheit nach. Sie verwirft zuletzt ihren 
früheren Beschluß, daß die künftigen Schulaufsichtsorgane nur in Gemeinschaft 
von Staat und Kirche anzustellen seien. Hierüber soll vielmehr Alles der 
Ordnung zwischen Landtag und Regierung überlassen bleiben. 
7. Juni. (Deutsches Reich.) Reichstag: genehmigt den Gesetzentwurf, 
welcher das Bundesoberhandelsgericht in Leipzig als obersten Gerichts- 
hof für Elsaß-Lothringen bestellt. 
„   „ (Sachsen.) Landessynode: Debatte über Anträge betr. Ab- 
änderung des sog. Religionseides, welcher den Geistlichen und Lehrern 
aufgelegt wird und in dem die Verpflichtung auf die symbolischen 
Bücher des 16. Jahrhunderts ausgesprochen ist. 
       Der Eid wurde bisher in einer milden Weise vom Kirchenregiment und 
von den Geistlichen interpretirt, so daß dem subjectiven Ermessen überlassen 
blieb, das Wesentliche vom Unwesentlichen in den symbolischen Büchern zu 
sondern. Trotz dieser milden Praxis war indeß der Eid vielfach ein Stein 
des Anstoßes. Der Rector der Universität Dr. Zarncke beantragt nun eine 
neue Fassung, der Professor der Theologie in Leipzig, Luthardt, schlägt jedoch 
Ablehnung derselben und Aufrechthaltung des alten Religionseides vor. Das 
Kirchenregiment erklärt seinerseits seine Geneigtheit, sowohl den Eid abzuändern, 
als die Schwurform durch eine Gelöbnißform zu ersetzen, und Prof. der 
Theologie Dr. Bauer schlägt hierauf eine Gelöbnißformel vor, die sowohl dem 
Princip der freien wissenschaftlichen Forschung, als dem lutherischen Bekenntniß 
entspricht. Der Eindruck seiner Rede ist ein tiefer; die altgläubige Partei er- 
klärt durch ihren Führer, den Prof. Luthardt, ihr Einverständniß mit dieser 
Formel, und zuletzt wird dieselbe mit 63 gegen 9 Stimmen, worunter 4 von 
den Vertretern des strengsten Orthodoxismus, angenommen. Das Gelöbniß 
lautet nunmehr: „Ich gelobe vor Gott, daß ich das Evangelium von Christo, 
wie dasselbe in der heiligen Schrift enthalten und in der ersten ungeänderten 
Augsburger Consession und sodann in den übrigen Bekenntnißschriften der 
evangelisch-lutherischen Kirche bezeugt ist, nach bestem Wissen und Gewissen 
lauter und rein lehren und verkündigen will.“ 
8.   „ (Bayern.) Um gegen die Stadt Passau zu demonstriren, in der 
sich der Bürgermeister mit seinen zwei rechtskundigen Räthen an die 
Spitze der antiinfallibilistischen Bewegung gestellt hat, nimmt der 
Bischof Heinrich mit seinem Domkapitel keinen Antheil an der Fron- 
leichnamsprocession und läßt auf der bischöfl. Residenz sechs schwarze 
Flaggen aufziehen.
	        
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