Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

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                        Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
dammungen des Syllabus, welcher nun ein mit päpstlicher Unfehlbarkeit be- 
kleidetes Decret geworden ist, die feierliche Verdammung der österreichischen 
Verfassung durch den Papst, die gleichzeitigen Publikationen der Jesuiten in 
Laach, in Wien und in Rom — die bekanntlich besser als die deutschen Bi- 
schöfe über die Absichten der Curie unterrichtet sind —, wenn man Alles dieses 
mit den vaticanischen Decreten zusammenhält, so muß man die Augen schließen, 
um den wohlüberlegten Plan päpstlicher Universalherrschaft 
nicht zu erkennen. Unsere Regierungen, unsere Gesetze und Staatseinrichtungen, 
das gesammte Gebiet des Sittlichen, die Handlungen der einzelnen Menschen, 
Alles soll künftig der Curie und ihren Werkzeugen und theils wandernden, 
theils stabilen Commissären, seien es Bischöfe oder Jesuiten, unterthan sein. 
Als alleiniger Gesetzgeber in Sachen des Glaubens, der Disciplin und der 
Sitte, als oberster Richter, als unverantwortlicher Gebieter und Vollstrecker 
seiner Sentenzen besitzt der Papst nach der neuen Lehre eine Gewaltfülle, wie 
selbst die ausschweifendste Phantasie sie nicht größer sich denken kann. Die 
deutschen Bischöfe aber würden wohlthun, das treffende Wort zu beherzigen, 
welches einst in ähnlicher Lage der Franziskaner Occam in München ausge- 
sprochen hat. „Wenn der römische Bischof, sagt Occam, eine solche Fülle der 
Gewalt besäße, wie die Päpste sich verwerflicher Weise anmaßen, und wie Viele 
irrig und schmeichlerisch ihnen zuzuertheilen unternehmen, so wären alle Sterb- 
lichen Sclaven, was der Freiheit des evangelischen Gesetzes offen zuwiderläuft.“ 
Wir berufen uns auf das unfreiwillige Zeugniß, welches die deutschen Bischöfe 
selbst für die Gerechtigkeit unserer Sache ablegen. Wenn wir die neue Lehre, 
daß der Papst der universale Bischof und der absolute Gebieter jedes Christen 
im ganzen Umfange der Moral, also des gesammten sittlichen Thuns und 
Lassens sei, offen und direkt zurückweisen, so zeigen die Bischöfe durch die un- 
gleichen und widersprechenden Deutungen in ihren Hirtenbriefen, daß sie die 
Neuheit und das Abstoßende dieser Lehre sehr gut erkennen, und daß sie im 
Grunde sich derselben schämen. Keiner von ihnen kann sich dazu entschließen, 
dem Beispiel Manning's und der Jesuiten zu folgen und den vaticanischen 
Decreten ihren einfachen und natürlichen Sinn zu lassen. Aber sie vergessen, 
daß solche Deutungs- und Abschwächungsversuche, wie sie in ihren 
Hirtenbriefen in Anwendung gebracht werden, wenn man sie bei andern 
Glaubensdecreten sich erlauben wollte, geradezu alle Festigkeit und Gleich- 
mäßigkeit der Lehre erschüttern und eine allgemeine Unsicherheit und Unge- 
wißheit des Glaubens zur Folge haben würden. Was würde wohl an den 
Glaubensentscheidungen der Kirche, den alten und den neuen, noch fest und 
zuverlässig bleiben, wenn man eine Behandlung, wie sie im jüngsten Hirten- 
briefe der Bulle des achten Bonifazius widerfährt, auf sie alle anwenden, dem 
klaren Wortlaut, der offenkundigen Absicht der Abfassung überall so in's 
Antlitz schlagen wollte, wie es hier geschieht? Wir beklagen einen solchen 
Gebrauch des bischöflichen Lehramtes. Wir beklagen noch tiefer, daß dieselben 
Bischöfe sich nicht gescheut haben, in einem Hirtenbrief an das katholische Volk 
den Gewissensschrei ihrer Diöcesanen mit Schmähungen auf Vernunft 
und Wissenschaft zu beantworten. Wahrlich, wenn wir von Männern, 
die keine höhere Pflicht als den blinden Gehorsam zu kennen scheinen, auf ihre 
ehrwürdigen Vorfahren im Episkopat, auf Bischöfe wie Cyprian, Athanasius, 
Augustin, blicken, so haben wir ein größeres Recht als der hl. Bernhard zu 
dem Schmerzensruf: „Quis nobis dabit videre ecclesiam sicut erat in diebus 
antiquis?“ 
       „3) Wir weisen die Drohungen der Bischöfe als unberechtigt, ihre 
Gewaltmaßregeln als ungiltig und unverbindlich zurück. Sonst pflegte man 
in der ganzen Kirche den Grundsatz hochzuhalten: „Sobald von einer Lehre 
der Zeitpunkt angegeben werden könne, in welchem sie zuerst aufgebracht 
worden, sei Dieß ein gewisses Zeichen ihrer Unrichtigkeit.“ Gerade Dieß ist 
bei der neuen Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit der Fall. Man vermag
	        
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