Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 169
den Zeitpunkt, in welchem diese Lehre zuerst sich hervorgewagt, die Personen,
welche sie ersonnen, die Interessen, denen sie damit fröhnten, genau zu be-
stimmen. Wenn Päpste und Bischöfe in früheren Zeiten die Urheber und
Anhänger einer unkatholischen Lehre aus der Kirchengemeinschaft ausschlossen,
so war es vor Allem der Hinweis auf die Neuheit der Lehre und auf ihren
Widerspruch mit dem altüberlieferten Glauben, womit sie, wie mit einem
Schilde, sich deckten. An dieser offenbaren und leicht zu konstatirenden That-
sache, daß die Lehre bisher nicht als göttlich geoffenbarte gegolten habe, sollten
die Betroffenen die Gerechtigkeit des kirchlichen Richterspruches und die Unhalt-
barkeit der von ihnen vorgetragenen Lehre erkennen. Jetzt hat man zum
Erstenmal — der Fall ist in achtzehn Jahrhunderten nicht vorgekommen —
Männer mit dem Kirchenbanne belegt, nicht weil sie eine neue Lehre behaupten
und ausbreiten wollen, sondern weil sie den alten Glauben, wie sie selber ihn
von ihren Eltern und Lehrern in Schule und Kirche empfangen haben, be-
wahren und das Gegentheil davon nicht annehmen, ihren Glauben nicht wie
ein Kleid wechseln wollen. Daß eine ungerechte Excommunication nicht den
davon Betroffenen, sondern nur den Bannenden schädige, daß Gott vielmehr
solchen unschuldig Mißhandelten ihre Leiden zu einer Quelle des Segens werden
lasse, ist die gemeinsame Lehre der Väter. Wir wissen aber auch, daß diese
Bannungen ebenso ungiltig und unverbindlich als ungerecht sind, daß
weder die Gläubigen ihr gutes Recht auf die Gnadenmittel Christi, noch die
Priester ihre Befugniß, dieselben zu spenden, dadurch verlieren können, und
sind entschlossen durch Censuren, welche zur Förderung falscher Lehren ver-
hängt worden sind, unser Recht uns nicht verkümmern zu lassen.
„4) Wir leben der Hoffnung, daß der jetzt ausgebrochene Kampf unter
höherer Leitung das Mittel sein wird, die längst ersehnte und unabweisbar
gewordene Reform der kirchlichen Zustände sowohl in der Ver-
fassung als im Leben der Kirche anzubahnen und zu verwirklichen.
Der Blick auf die Zukunft erhebt und tröstet uns mitten in der Trübsal der
gegenwärtigen Verwirrung. Wenn uns gegenwärtig allenthalben in der Kirche
die überwuchernden Mißbräuche begegnen, welche durch den Sieg der vati-
canischen Dogmen gestärkt und unantastbar gemacht, ja schließlich bis zur Ver-
nichtung alles christlichen Lebens gesteigert werden würden; wenn wir trauernd
das Streben nach geistlähmender Centralisation und mechanischer
Uniformität wahrnehmen; wenn wir die wachsende Unfähigkeit der Hierarchie
beobachten, welche die großartige geistige Arbeit der neuen Zeit nur mit dem
Schellengeklingel altgewohnter Redensarten und ohnmächtiger Verwünschungen
zu begleiten oder zu unterbrechen vermag — so ermuthigt uns doch die Er-
innerung an bessere Zeiten und die Zuversicht auf den göttlichen Lenker der
Kirche. In solcher Rückschau und Vorschau zeigt sich uns ein Bild ächt kirch-
licher Regeneration, ein Zustand, in welchem die Culturvölker katholi-
schen Bekenntnisses, ohne Beeinträchtigung ihrer Gliedschaft an dem Leibe
der allgemeinen Kirche, aber frei von dem Joch unberechtigter Herrschsucht,
jedes sein Kirchenwesen entsprechend seiner Eigenart und im Einklange
mit seiner übrigen Culturmission und einträchtiger Arbeit von Clerus und
Laien gestaltet und ausbildet und die gesammte katholische Welt sich der Führung
eines Primats und Episkopats erfreut, der durch Wissenschaft und durch die
thätige Theilnahme an einem gemeinsamen Leben sich die Einsicht und die
Befähigung erworben hat, um der Kirche die ihrer einzig würdige Stelle an
der Spitze der Weltcultur wieder zu verschaffen und auf die Dauer zu er-
halten. Auf diesem Wege, und nicht durch die vaticanischen Decrete, wer-
den wir zugleich uns dem höchsten Ziele christlicher Entwicklung wieder nähern,
der Vereinigung der jetzt getrennten christlichen Glaubensgenossenschaften, die
von dem Stifter der Kirche gewollt und verheißen ist, die mit immer steigen-
der Kraft der Sehnsucht von unzähligen Frommen, und nicht am Wenigsten
in Deutschland, begehrt und herbeigerufen wird. Das gebe Gott! München,