Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

                     Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.                         235 
dem Mangel an executiven Vorschriften, die man neben die betreffenden Be- 
stimmungen hätte setzen müssen, wenn sie irgend einen practischen Werth 
hätten haben sollen. Es ist einleuchtend, daß ein solcher Zustand nicht für 
die Dauer bestimmt ist. Werfen Sie nochmals einen Blick auf die Sachlage 
zurück! Zwei Gewalten bestehen im Staate; der Staat schützt mit seiner 
Gewalt, mit der weltlichen Gewalt, die Autorität der Kirche. Er zwingt den 
neugeborenen Staatsbürger in ein religiöses Bekenntniß hinein, er zwingt mit 
seiner Gewalt das Kind zur Theilnahme an den religiösen Uebungen. Von 
der Wiege bis zum Grabe macht er den Staatsangehörigen begreiflich, daß 
die Autorität der Kirche zu achten und zu ehren ist. Dem entgegen vindicirt 
sich die Kirche das Gebiet des Staates und ganz offen die Oberhoheit über 
den Staat. Sie bekämpft mit ihren Organen den Staat, so oft sie nicht 
mit ihm einverstanden ist, und zwar unter Anwendung des Ausspruches, daß 
seine Gesetzggebung mit dem göttlichen Gesetze in Widerspruch stehe, daß es 
Gottes Gebot sei, den schlechten Gesetzen des Staates den Gehorsam zu ver- 
weigern, und daß es religiöse Pflicht sei, Gott mehr zu gehorchen als den 
Menschen, daß aber selbstverständlich die Kirche es sei, welche zu bestimmen 
habe, was Gott befiehlt, was nicht. Der Staat hat sich zu wehren versucht, 
aber sein Schwert war stumpf und sein Feuer brannte nicht. Was ist be- 
greiflicher, als neue Anstrengungen des Staates zum Schutze seiner Stellung? 
Wie aber soll man diese Anstrengungen ins Werk setzen? Soll man es 
thun durch Pflege und Ausbildung der Institute des placetum regium, des 
recursus ab abusu und ähnlicher Dinge? Offen gestanden, m. H., ich bin 
dieser Ansicht nicht, ich bin kein Freund, sondern ein entschiedener Gegner von 
Instituten, wie das placetum regium und der recursus ab abusu. Dieser 
Meinung huldige ich nicht ausschließlich, ja nicht einmal vorwiegend deßhalb, 
weil ich die Ohnmacht des Staates auf diesem Gebiete anerkenne. Freilich 
halte ich es für sehr heilsam, sich diese Ohnmacht zu vergegenwärtigen und 
sich vor Augen zu halten, daß es nicht möglich ist, von Seiten der weltlichen 
Regierung eine Macht zu üben über die Gewissen, daß es dem Staate nicht 
zukommen kann, Nachlaß der Sünden zu erzwingen, wo er vom Diener der 
Kirche verweigert wird, die feierliche Trauung zu erzwingen, wo man sie aus 
kirchlichen Rücksichten verweigern zu müssen glaubt, und so weiter. Aber ich 
bin der Ansicht, daß man das placetum regium und ähnliche Sachen nicht 
weiter verfolgen soll, weil sie mit den Principien des modernen Staates ge- 
radezu unvereinbar sind. Der Staat muß sich selbst treu bleiben, auch wo 
er seine Gegner bekämpft. Der moderne Staat schreibt auf seine Fahne die 
Gewissensfreiheit. Daraus folgt, daß kein Cultusminister das religiöse 
Glaubensbekenntniß irgend einer Religionsgesellschaft orthopädisch behandeln 
kann. Daraus folgt, daß kein Cultusminister bestimmen kann, wer als Mit- 
glied einer Kirchengemeinde anzuerkennen ist, wer nicht; daß kein Cultusminister 
bestimmen kann, wer geistliche Functionen vorzunehmen hat, wer nicht. Auch 
hier bekenne ich mich zu dem Satze, daß der Kirche jene Freiheit eingeräumt 
werden muß, welche die Consequenz der modernen Staatstheorie ist. Aber 
Eine Folge ziehe ich davon: daß auch dem Staate seine Freiheit werden muß. 
Der Staat muß vor Allem sein Gebiet begrenzen, muß es schützen. Das 
kann nun freilich nicht geschehen durch einen förmlichen Abschluß, durch eine 
Verhinderung alles Verkehrs mit der Kirche; aber wohl kann es geschehen 
durch Aufrichten eines Systems von Bollwerken gegen jeden feindlichen An- 
griff, und Ein solches Bollwerk ist das vorliegende Gesetz.  .  . Auf das Dogma 
von der Infallibilität will ich mich nicht näher einlassen; aber einen Gesichts- 
punkt hervorzuheben, werden Sie gestatten. Jene alten Theorien, von denen 
ich gesprochen, waren ja längst in der Welt, sie waren aber nur eine Lehr- 
meinung und darum kein Anlaß, um denjenigen Katholiken, der die Absicht 
hatte, seiner Kirche treu zu bleiben, aber mit den Gesetzen im Einklang zu 
leben, irgendwie zu geniren und mit seinem Gewissen in Conflict zu bringen.
	        
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