Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 235
dem Mangel an executiven Vorschriften, die man neben die betreffenden Be-
stimmungen hätte setzen müssen, wenn sie irgend einen practischen Werth
hätten haben sollen. Es ist einleuchtend, daß ein solcher Zustand nicht für
die Dauer bestimmt ist. Werfen Sie nochmals einen Blick auf die Sachlage
zurück! Zwei Gewalten bestehen im Staate; der Staat schützt mit seiner
Gewalt, mit der weltlichen Gewalt, die Autorität der Kirche. Er zwingt den
neugeborenen Staatsbürger in ein religiöses Bekenntniß hinein, er zwingt mit
seiner Gewalt das Kind zur Theilnahme an den religiösen Uebungen. Von
der Wiege bis zum Grabe macht er den Staatsangehörigen begreiflich, daß
die Autorität der Kirche zu achten und zu ehren ist. Dem entgegen vindicirt
sich die Kirche das Gebiet des Staates und ganz offen die Oberhoheit über
den Staat. Sie bekämpft mit ihren Organen den Staat, so oft sie nicht
mit ihm einverstanden ist, und zwar unter Anwendung des Ausspruches, daß
seine Gesetzggebung mit dem göttlichen Gesetze in Widerspruch stehe, daß es
Gottes Gebot sei, den schlechten Gesetzen des Staates den Gehorsam zu ver-
weigern, und daß es religiöse Pflicht sei, Gott mehr zu gehorchen als den
Menschen, daß aber selbstverständlich die Kirche es sei, welche zu bestimmen
habe, was Gott befiehlt, was nicht. Der Staat hat sich zu wehren versucht,
aber sein Schwert war stumpf und sein Feuer brannte nicht. Was ist be-
greiflicher, als neue Anstrengungen des Staates zum Schutze seiner Stellung?
Wie aber soll man diese Anstrengungen ins Werk setzen? Soll man es
thun durch Pflege und Ausbildung der Institute des placetum regium, des
recursus ab abusu und ähnlicher Dinge? Offen gestanden, m. H., ich bin
dieser Ansicht nicht, ich bin kein Freund, sondern ein entschiedener Gegner von
Instituten, wie das placetum regium und der recursus ab abusu. Dieser
Meinung huldige ich nicht ausschließlich, ja nicht einmal vorwiegend deßhalb,
weil ich die Ohnmacht des Staates auf diesem Gebiete anerkenne. Freilich
halte ich es für sehr heilsam, sich diese Ohnmacht zu vergegenwärtigen und
sich vor Augen zu halten, daß es nicht möglich ist, von Seiten der weltlichen
Regierung eine Macht zu üben über die Gewissen, daß es dem Staate nicht
zukommen kann, Nachlaß der Sünden zu erzwingen, wo er vom Diener der
Kirche verweigert wird, die feierliche Trauung zu erzwingen, wo man sie aus
kirchlichen Rücksichten verweigern zu müssen glaubt, und so weiter. Aber ich
bin der Ansicht, daß man das placetum regium und ähnliche Sachen nicht
weiter verfolgen soll, weil sie mit den Principien des modernen Staates ge-
radezu unvereinbar sind. Der Staat muß sich selbst treu bleiben, auch wo
er seine Gegner bekämpft. Der moderne Staat schreibt auf seine Fahne die
Gewissensfreiheit. Daraus folgt, daß kein Cultusminister das religiöse
Glaubensbekenntniß irgend einer Religionsgesellschaft orthopädisch behandeln
kann. Daraus folgt, daß kein Cultusminister bestimmen kann, wer als Mit-
glied einer Kirchengemeinde anzuerkennen ist, wer nicht; daß kein Cultusminister
bestimmen kann, wer geistliche Functionen vorzunehmen hat, wer nicht. Auch
hier bekenne ich mich zu dem Satze, daß der Kirche jene Freiheit eingeräumt
werden muß, welche die Consequenz der modernen Staatstheorie ist. Aber
Eine Folge ziehe ich davon: daß auch dem Staate seine Freiheit werden muß.
Der Staat muß vor Allem sein Gebiet begrenzen, muß es schützen. Das
kann nun freilich nicht geschehen durch einen förmlichen Abschluß, durch eine
Verhinderung alles Verkehrs mit der Kirche; aber wohl kann es geschehen
durch Aufrichten eines Systems von Bollwerken gegen jeden feindlichen An-
griff, und Ein solches Bollwerk ist das vorliegende Gesetz. . . Auf das Dogma
von der Infallibilität will ich mich nicht näher einlassen; aber einen Gesichts-
punkt hervorzuheben, werden Sie gestatten. Jene alten Theorien, von denen
ich gesprochen, waren ja längst in der Welt, sie waren aber nur eine Lehr-
meinung und darum kein Anlaß, um denjenigen Katholiken, der die Absicht
hatte, seiner Kirche treu zu bleiben, aber mit den Gesetzen im Einklang zu
leben, irgendwie zu geniren und mit seinem Gewissen in Conflict zu bringen.