Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 247
8. Dec. (Bayern.) Der Clerus der Stadt Cham (Oberpfalz) beschließt
gegenüber dem von der bayr. Regierung im Reichstag vorgeschlagenen
und durchgesetzten sog. Kanzelparagraphen folgende characteristische
Erklärung:
„1) Wir haben ein Gesetz, das jedem andern Gesetz vorangeht, und dieses
Gesetz lautet: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen!“ 2) Wir
werden fortfahren das Wort Gottes zu verkünden wie bisher, allerdings in
Beachtung des Gehorsams gegen jene weltlichen Gesetze, welche jeden Staats-
angehörigen ohne Ausnahme verbinden, aber auch in Beachtung jener Ver-
antwortlichkeit, die wir Gott, unserem Gewissen und unsern geistlichen
Oberen schuldig sind. Wir werden unter allen Umständen unsere Schuldig-
keit thun. 3) Wir fürchten uns nicht vor dem zweijährigen Gefängniß und
werden tausendmal lieber in den Kerker gehen als stumme Hunde
machen. 4) Wir halten dafür, daß wir diese Erklärung unserem gläubigen
Volke schuldig sind. So geschrieben und unterzeichnet am Fest des hl. Apostels
Andreas, der wie sein Herr und Meister am Kreuze gestorben ist."
9. Dec. (Preußen.) Abg.-Haus: Der Finanzminister bringt die Vor-
lage bez. Steuerreform ein.
In seinem einleitenden Vortrage konstatirt er zunächst das Verhältniß des
Partikularstaates Preußen zur Kontributionsfrage. Ueber die ersten 2 Milli-
arden hat das Reich bereits vollständig disponirt, Preußen als solches bekommt
davon nichts. Die nächste Zahlung hat vertragsmäßig erst im März 1873
und die Hauptzahlung im Jahre 1874 stattzufinden. Auf diese zukünftigen
Beträge rechnet die preuß. Regierung bei ihrer Steuerreform durchaus nicht.
Sie hat die zuversichtliche Erwartung, daß Frankreich seine Verbindlichkeiten
erfüllen wird. Aber immerhin ist die zuversichtlichste Erwartung der in Zu-
kunft eingehenden Beträge noch nicht mit der Gewißheit ihres Eingehens gleich-
bedeutend, die Finanzverwaltung zieht die Gewißheit vor und rechnet nicht mit
der Erwartung. Wohl aber gestattet diese Erwartung die Aufnahme neuer
Aufgaben im Gebiet der Steuerreform. Sache der Reichsgesetzgebung wird es
sein, die ihr zukommenden indirekten Steuern, welche nothwendige Lebensbe-
dürfnisse belasten, aufzuheben und andere, welche die gewählteren Genüsse des
Lebens treffen, zu erhöhen. Der Aufmerksamkeit des preuß. Finanzministers
entgehen diese Fragen nicht. Für ihn kommen jedoch zunächst nur die dem
Partikularstaat Preußen verbleibenden Steuern in Betracht, und zwar wird
er dabei durch die Absicht geleitet, die untersten Schichten der Bevölkerung in
der Steuerlast zu erleichtern und unter Aufhebung von indirekten Steuern,
die nicht mehr haltbar sind, das direkte Steuersystem weiter auszudehnen.
Er hält sich bei der beabsichtigten Reform nicht blos an die eine Million ge-
bunden, die im Staatshaushalt für Steuernachlässe ausdrücklich reservirt war;
die Finanzlage gestattet eine sehr viel weiter greifende Maßregel. (Lebhafter
Beifall.) Ein besonnen abgefaßter Voranschlag konnte für 1873 eine dauernde
Ersparniß an Zinsen von Staatsanlehen durch Tilgung derselben im Betrage
von 2 ½ Millionen und für 1872 bereits von 1,634,000 Thlr. in Aussicht
nehmen. Eine noch nicht zu bemessende Erhöhung der Ersparniß tritt durch
den Ankauf noch nicht konsolidirter Anlehen hinzu. Der Minister schlägt daher
eine Maßregel vor, die einen dauernden Ausfall von 2½ Mill. verursacht,
indem sie unter Aufhebung der Mahl- und Schlachtsteuer die Klassensteuer
auf die ganze Monarchie ausdehnt, sie dagegen in der untersten Stufe 1 A
in Abgang bringt. Zur Klassensteuer herangezogen werden im Ganzen
7,766,577 Steuerzahler, darunter zu Stufe 1 A, welche monatlich 1 Sgr.
3 Pf. zahlt, 5.061.171. Vom 1. Juli 1872 an soll diesen mehr als 5 Mill.
die direkte Steuer erlassen werden. Diese Reform macht die so dringend ge-
wünschte Aufhebung der Mahl- und Schlachtsteuer möglich, denn die Klassen-