Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

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Oesterreich--Augarn. 
oder dem Abgeordnetenhause des Reichsraths, keines auch der deutschen Ver- 
fassungspartei außerhalb des Parlaments an. Auch die polnische Partei ist 
in demselben durch Niemand vertreten. Die HH. Jirecek und Habietinek 
gehören zu der böhmischen Ausgleichspartei. Ein Beamten= oder Aristokraten- 
ministerium ist das neue Cabinet auch nicht; denn nur Herr Iirecek ist Be- 
amter, und drei Minister sind bürgerlichen Standes. Der neue Minister des 
Innern, Graf Hohenwart, war Statthalter von Oberösterreich, auf welchen 
Posten er von dem Bürgerministerium gestellt worden. Der Justizminister 
Habietinek war Präfect am Theresianum, später Advokat in Prag und zuletzt 
Professor an der Wiener Universität. Der neue Unterrichtsminister Herr Jirit- 
schek war eine leitende Kraft des Unterrichtsministeriums in Cultusangelegen- 
heiten und Vertreter der Helfert'schen Richtung. Professor Schäffle war 
vor nicht langer Zeit aus Württemberg, wo er sich als eifriger Großdeutscher 
und leidenschaftlicher Preußenfeind bemerklich gemacht hatte, nach Wien be- 
rufen worden. Aus seiner Feder ist das gleichzeitig in der offiz. „Wiener 
Ztg.“ erschienene 
Programm des neuen Ministeriums geflossen: „In einem hoch- 
ernsten Moment übernehmen die nunmehrigen Rathgeber der Krone ihre ver- 
antwortlichen Functionen. Allein stark durch das Vertrauen und die ihnen 
allergnädigst zugesicherte Unterstützung ihres erhabenen Herrn, auf die patrio- 
tische Gesinnung der gesammten Bevölkerung bauend, persönlich unbefangen 
der gegenwärtigen verworrenen Lage gegenüber, und unter sich über Ziele und 
Mittel vollkommen einig — treten sie an ihre Aufgabe mit dem festen Ent- 
schlusse heran, an das allgemein empfundene dringende Bedürfniß staatsrecht- 
lichen Friedens und fruchtbarer Gestaltung der Staatsthätigkeit nachdrücklich 
und beharrlich zu appelliren. Die neue Regierung wird, nachdem sie die volle 
Billigung Sr. k. und k. apostol. Majestät für das detaillirte Programm 
ihrer Thätigkeit bereits eingeholt hat, ihre ganze Kraft daran setzen, den Na- 
men einer wahrhaft österreichischen Regierung für die im Reichsrathe 
vertretenen Königreiche und Länder zu verdienen. Den nationalen und poli- 
tischen Gegensätzen gegenüber frei von jeder ausschließenden Parteirichtung und 
versöhnlich gegen Verirrungen, die der Vergangenheit angehören, wird sie da- 
gegen alle staatsfeindlichen Bestrebungen ohne Ausnahme mit der schonungs- 
losen Strenge des Gesetzes niederbeugen, und — eingedenk der Verpflichtungen 
gegen die andere Reichshälfte — das Richtmaß ihres Handelns unverrückbar 
und ausschließlich an der eigenthümlichen staatlichen Natur und an dem wahren 
politischen Bedürfniß der diesseitigen Reichshälfte abnehmen. Sie weiß, daß 
kein zweites Staatswesen stärker als das österreichische angewiesen ist auf fried- 
liches Verhalten nach außen, auf freiheitliche Entwicklung und Versöhnlichkeit 
nach innen, und auf gleichmäßige intensive Pflege der allen Volksstämmen 
gemeinsamen bürgerlichen Interessen; denn hierin ruht der unvergängliche 
politische Werth dieses Staates für seine eigenen Angehörigen, seine erhabene 
sittlich-humane Mission für Europa und seine große Verheißung für die Zu- 
kunft. Nicht minder ist sich aber die Regierung auch dessen bewußt, daß kein 
anderes Staatswesen von seinen leitenden politischen Organen in höherem 
Grade klares Bewußtsein über die Grenzen dessen was dem Ganzen — und 
desjenigen was den Gliedern gebührt, — sowie den Willen und die volle 
Kraft erheischt, dem Gesetze nach allen Seiten volle Geltung zu verschaffen. 
Eine österreichische Regierung erfüllt daher lediglich ihre eigenste Aufgabe und 
ihre ganze Pflicht, wenn sie ohne Hintergedanken allen berechtigten Eigenthüm- 
lichkeiten freien und weiten Spielraum gewährt, dagegen nimmermehr prekäre 
Compromisse mit dem Separatismus, welchen Namens immer, auf Kosten 
unentbehrlicher staatseinheitlicher Attribute abschließt, noch gestattet, daß das 
Gedeihen und die Fruchtbarkeit des politischen Gesammtverbandes durch die 
Ueberhebung wilder Schosse des Parteitriebes in Frage gestellt werde. Das 
bestehende Verfassungsrecht, dessen Continuität nicht unterbrochen wer-
	        
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