Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

Oesterreich-Augarn. 271 
Reichsgesetzgebung erfolgen. Die bezüglichen Beschlüsse der beiden Häuser des 
Reichsrathes können nur mit Zweidrittel-Mehrheit gefaßt werden. 
Ein aus den Reihen der Verfassungspartei gestellter Antrag auf 
Einführung directer Reichsrathswahlen wird mit großer Mehrheit an 
den Verfassungsausschuß gewiesen. Auch die Polen stimmen dafür. 
9. Mai. (Oesterreich.) Reichsrath, Abg.-Haus: Entscheidung über die 
10. 
Vorlage der Regierung betr. Ertheilung der Gesetzgebungsinitiative an 
die Landtage. Bericht Herbst. Die Vorlage wird nach kurzer De- 
batte mit 88 gegen 58 Stimmen abgelehnt. Dagegen stimmen die 
Polen, das rechte Centrum und einige Großgrundbesitzer. 
Herbst: Der Ausschuß habevom Ministerium keine genügende Aufklärung über 
den Zweck der Vorlage erhalten können, dagegen die Ueberzeugung gewonnen, 
daß dieselbe eine vollständige Verrückung der Staatsgewalt, eine Verwirrung 
aller Kompetenzgrenzen, einen beständigen Konflikt zwischen den verschiedenen 
gesetzgebenden Faktoren, kurz ein vollständiges Chaos in der Gesetzgebung zur 
nothwendigen Folge haben würde und er empfehle daher dem Hause, über 
die Vorlage zur Tagesordnung üÜberzugehen. Graf Wodzidkki erklärt im 
Namen der Polen, v. Kovats im Namen des rechten Centrums, daß seine 
Parteigenossen in der Vorlage „das ehrliche und anerkennenswerthe Bestreben 
der Regierung, die Lösung der inneren Zerwürfnisse herbeizuführen"“, erblickten 
und deßwegen gegen den Uebergang zur Tagesordnung stimmen würden. 
Damit ist die Debatte geschlossen. Der Minister-Präsident Graf Hohenwart 
hält darauf eine sehr lange Rede, die sich im Wesentlichen mit einer Kritik 
des Ausschußberichtes beschäftigte, über den Zweck der Vorlage aber nicht die 
geringste Auskunft gab. Herbst bemerkt, Eine Kritik des Ausschußberichts 
sei keine Motivirung der Vorlage und schließt seine Rede nachdrücklich mit der 
Bemerkung: „Der Gedanke und das Gefühl, welches uns tröstet inmitten der 
allgemein hereinbrechenden Zerrüttung, ist: daß es heutzutage keine 
Macht mehr gibt, welche stark genug wäre, um die deutsche Na- 
tionalität und die Ideen der modernen Zeit in Oesterreich auf 
lange bleibend zu unterdrücken.“ 
„ (Oesterreich.) Reichsrath, Abg.-Haus: Der Verfassungsausschuß 
geht an die Berathung der Galizischen Vorlage. Graf Hohenwart 
gibt darüber nähere Aufschlüsse, die keinen Zweifel mehr darüber lassen, 
daß das Ministerium dem reinen Föderalismus zusteuert. Ungeheure 
Aufregung. Die weitere Behandlung wird augenblicklich abgebrochen 
und ein Subcomité beauftragt, schleunigst über eine an den Kaiser 
zu richtende Adresse zu berichten. 
Herbst stellt die Frage, ob die Weglassung der in der galizischen Reso- 
lutiön enthaltenen Bestimmung, daß die galizischen Abgeordneten an der Be- 
rathung und Abstimmung über Gegenstände, welche Galizien selbstständig zu 
behandeln habe, im Reichsrathe nicht theilzunehmen hätten, auf einem Versehen 
beruhe. Darauf erwidert Hohenwart: die Auslassung beruhe auf keinem Ver- 
sehen, die Regierung sei entschieden der Ansicht, daß die galizischen Abgeord- 
neten auch in solchen Angelegenheiten mitzustimmen hätten, da sie doch ein 
Interesse am Gesammtreiche hätten. Die Aufregung, welche sich hierüber der 
Abgeordneten bemächtigt, ist eine ungeheure und nur von jener zu überbieten, 
welche noch eine andere Erklärung Hohenwart's hervorrufen sollte. Frhr. 
v. Lasser fragt nämlich, ob die autonomistischen Konzessionen auf Galizien 
beschränkt bleiben oder den Anfang fernerer Selbstständigkeits-Erweiterungen 
der anderen Länder bilden sollten. Darauf erklärt Graf Hohenwart: Vor-
	        
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