Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

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Oesterreich-Angarn. 
kale, die Steyermark 11 Verfassungstreue, 2 Klerikale, Tyrol (wenn die kleri- 
kalen Wälschtyroler in den Landtag gehen) 9 Klerikale. Wenn also die De- 
klaranten-Majorität des mährischen Landtages gleich der des böhmischen die 
Beschickung des Reichsrathes verweigert, so stehen 50 Liberale 76 Ministeriellen 
gegenüber. Durch Verhinderung der Linzer Handelskammer-Wahlen und 
Kassirung der Linzer Stadtwahlen könnte die Zahl der Liberalen auf 48 
herabgedrückt werden. Falls der mährische Landtag den Reichsrath beschicken 
sollte, würde er natürlich die Deutschen möglichst in ihrer Vertretung ver- 
kürzen, sonach 3 Verfassungstreue und 19 Ministerielle entsenden. Dann 
würden 53 Liberale 95 Ministeriellen gegenüber stehen. Wählt endlich der 
böhmische Landtag in den Reichsrath (13 Deutsche, 41 Czechen und Ultra- 
montane)h), so stellt sich das Verhältniß der Liberalen zu den Ministeriellen wie 
66 zu 136. 
8. Sept. (Oesterreich.) Die Deutsch-Oesterreicher scheinen entschlossen, sich 
von dem national-feudal-clericalen Regimente Hohenwart und dem von 
ihm zusammengebrachten Reichsrathe nicht majorisiren zu lassen und 
selbst die ungarischen Preßorgane finden das nur natürlich. 
Die „Neue freie Presse“, das hervorragendste Organ der Wiener 
Presse, erklärt über die Wahlniederlage der Deutschen sehr entschieden: „Wenn 
der Reichsrath allseitig — Wälschtyrol ausgenommen — beschickt würde, so 
vermöchte allerdings eine reaktionäre Mehrheit von 137 Abgeordneten, über 
eine verfassungstreue Minderheit von 66 Stimmen hinwegschreitend, jede be- 
liebige Verfassungsänderung vorzunehmen. Wenn! Da liegt's. Nachgerade 
haben wir Deutsch-Oesterreicher aus der Art, wie Czechen, Polen und Slo- 
venen Vorrechte erlangen, gründlich gelernt, wie wir zur Gleichberechtigung 
gelangen. Um eine ihr unliebsame Institution zu beseitigen, braucht in Oester- 
reich eine Partei nur nicht mitzuspielen. Nehmen wir uns ein Exempel daran! 
Thun wir für die Gesetze, was Andere nicht ohne Erfolg gegen dieselben ge- 
than haben. Wenn auch alle Getreuen der Regierung zu deren Schutz herbei- 
eilen würden: auf das Votum der steuerunfähigen Polen, Bukowinesen, Dal- 
matier, Istrianer, Krainer hin gibt kein Mensch einen Kreuzer zu den An- 
leihen, die man sehr dringend bedürfen wird. Ohne Theilnahme des an 
Kopfzahl stärksten und dabei steuerfähigsten der österreichischen Volksstämme 
geht's einmal nicht in Oesterreich und darum geht's auf die Dauer auch nicht 
gegen ihn.... Wenn es für den Unkundigen noch eines Beweises dafür be- 
dürfte, daß die Deutsch-Liberalen bei Genehmigung der Verfassung nicht nach 
Herrschaft, sondern nur nach Gleichberechtigung gestrebt, sogar um des Friedens 
willen den Nichtdeutschen Vorrechte eingeräumt haben: der Beweis ist in den 
jetzigen Landtagswahlen geliefert. Wohl ist das Wahlresultat vielfach ein 
erkünsteltes, erzwungenes; aber daß auf Grund eines von den freisinnigen 
Deutschen entworfenen Wahlgesetzes die Deutschen auf ein Drittel der Reichs- 
vertreter herabgedrückt werden können, beweist unwiderleglich, daß die Deutschen 
in der Verfassung nicht sich eine Hegemonie sichern wollten, sondern sich nicht 
einmal die Gleichberechtigung gesichert haben. Und auch darüber kann nach 
dem Wahlergebnisse kein Zweifel. mehr bestehen, daß die projectirte Aenderung 
der Wahlordnungen, die jetzt in der Gesammtvertretung unter ein Drittel 
herabgedrückten Deutschen völlig rechtlos machen, rettungslos der slavischen 
Willkür preisgeben müßte. Angesichts des mährischen Wahlresultats läßt sich 
den neuen Wahlordnungen die Absicht der Slavisirung Oesterreichs und der 
Zertrümmerung der Freiheit nicht mehr ableugnen. Die deutschen Abgeord- 
neten werden jedem Versuche der Vergewaltigung die in Oesterreich einzig er- 
folgreiche Taktik entgegenzusetzen wissen. „Jetzt gehen wir!“ sagte Fürst Karl 
Auersperg, als alle Mühen für eine parteilose Zusammensetzung der Linzer 
Wahlkommission vergeblich geblieben waren. „Jetzt gehen wir!“ so wird
	        
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