Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

Nebersicht der Ereignisse des Lahres 1871. 477 
„Herr J. Favre antwortete bejahend und Niemand, selbst nicht Herr 
Rochefort widersprach. Stark durch diese Erklärung, warf ich mich in den 
Strom und übernahm entschlossen den Vorsitz in der Regierung der Ver- 
theidigung. Ich war immer zur Rolle der Kassandra verurtheilt. Schon 
im Juli, noch vor Beginn der Feindseligkeiten, sagte ich zu einem auch als 
Mensch ausgezeichneten Staatsmann: Mein Herr, Frankreich, das Kaiserreich, 
die Armee gehen einem sichern Sturz entgegen. Die Gründe, warum? 
siud niedergelegt in einem Werke, das ich Ihnen hier übergebe. Dieser 
Mann war der Graf Daru. Zur selben Zeit legte ich, wie ein Mann, 
der seinen Tod vor Augen sieht, beim Notar mein Testament nieder. Ende 
September, als die Belagerung begann, drangen meine Collegen, die nicht 
gewöhnt waren, belagert zu werden, in mich, um meine Ansicht über die 
Lage zu vernehmen. 
Ich antwortete den Herrn Favre und Picard: es ist ein unbestreitbarer 
Lehrsatz der Kriegswissenschaft, daß eine belagerte Festung, die nicht durch eine 
Hilfsarmee unterstützt wird, unausbleiblich in die Hände des Belagerers fällt. 
Da nun keine Art von Hilfsheer vorhanden ist, um uns zu entsetzen, so 
glaube ich ganz einfach, daß wir hier versammelt sind, um eine heroische 
Thorheit zu begehen (une héro#que folie). Aber diese heroische Thor- 
heit ist unerläßlich, um die Ehre Frankreichs zu retten. Und warum 
sollte ich's Ihnen verhehlen!: Im Grunde meiner Seele hatte ich den Ge- 
danken, daß Amerika sich des herrlichen Feldzugs von Lafayette erinnern, daß 
England nicht vergessen haben würde, welche Dienste wir ihm bei Inkerman 
geleistet und daß auch Italien an Solferino gedenken würde. (Lebhafte Zu- 
stimmung.) Es war, ich erkenne es, eine militärische Naivität, aber sie war 
vielleicht ehrenwerther und politisch richtiger als die Gleichgiltigkeit, in die 
sich die fremden Regierungen angesichts unseres Unglücks eingehüllt haben: 
die Zukunft wirds beweisen.“ (Allgemeiner Beifall.) Gegen die Bosheit 
seiner Ankläger begnügt er sich im Voraus zu protestiren, „weil ich, wie 
alle Bretonen, stets an Gott geglaubt habe.“ „Ich liebe die bitteren Miß- 
geschick. Sie haben einen Werth, der auf die physische Gesundheit ebenso 
einwirkt wie auf die sittliche. Ich liebe sie für die Beamten des Staates 
wie für die Nationen selbst. Auf sie gründe ich die Hoffnung auf die 
Wiedergeburt meines Landes.“ 
Als das größte Hinderniß für die ernsthafte Aufnahme der Vertheidi- 
gung bezeichnet er den allgemeinen Unglauben an die Möglichkeit, überhaupt 
belagert zu werden. Man sagte: eine Stadt wie Paris kann gar nicht
	        
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